der Freitag: Herr Thalheimer, unter dem neuen Intendanten Oliver Reese werden Sie künftig fest als Regisseur am Berliner Ensemble, dem BE, arbeiten. Vor einigen Jahren wollten Sie noch möglichst schnell selbst Intendant werden. Hat sich Ihre Karriereplanung geändert?
Michael Thalheimer: Das war ein Lernprozess. Ich habe mich nie beworben, sondern bin beim Deutschen Theater, beim Thalia in Hamburg und auch vergangenes Jahr beim Burgtheater immer gefragt worden. Als Kulturminis-ter Ostermayer sich für Karin Bergmann entschieden hatte, war ich am ersten Tag wütend, am zweiten traurig und am dritten erleichtert. Dieses Gefühl hält bis heute an. Das ist keine Koketterie. Ich will eine Heimat bauen, eine künstlerische Familie bilden. Aber dafür muss ich nicht Intendant sein. Diesen Raum können mir auch andere schaffen. Ich glaube, dass der ganze Mist, den ein Intendant machen muss, mich als Regisseur einschränken würde. Das wurde mir erst durch die Absage aus Wien deutlich. Und ich hätte gleich ein großes Theater geleitet, etwas anderes kam für mich nie in Frage. Da ist das Risiko natürlich noch höher.
Ist das nur eine Phase oder schließen Sie kategorisch aus, ein Theater zu übernehmen?
Für die nächsten zehn Jahre bin ich jetzt mal am BE. Gut, ich bin nur ein Mensch, also: sieben. Aber die Kulturpolitik will auch einen anderen Typ. Der Künstlerintendant mit seiner Radikalität und Kompromisslosigkeit macht Angst. Gefragt sind heute der Dramaturgenintendant und der Kulturmanager. Was ich überhaupt nicht verstehe, ist die jüngste Erfindung: der Kurator. Bei Herrn Dercon und seiner Volksbühne wird es nur noch darum gehen, den Markt zu bedienen und Kunst zu verkaufen. Dafür wäre ich der falsche Mann. Den Mut, der Politiker früher bei der Auswahl von Theaterleitern ausgezeichnet hat, gibt es nicht mehr. Ein Intendant wie Rainer Werner Fassbinder ist undenkbar geworden.
Zur Person
Michael Thalheimer (Jahrgang 1965) zählt seit vielen Jahren zu den renommiertesten deutschen Theaterregisseuren. Ab 2017 arbeitet er fest am Berliner Ensemble, zurzeit wird er für seine Penthesilea-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt gefeiert
Foto: Doris Spiekermann-Klass/dpa
Das klingt pessimistisch, ja fast schon bitter. Zufriedenheit hört sich anders an.
Als Regisseur bin ich zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich als Michael Thalheimer glücklich bin. Ich habe noch nie mit einem Lächeln und voller Vorfreude auf die Schauspieler ein Theater betreten. Aus Glück entsteht keine Kunst. Sie wird immer aus dem Schmerz geboren, der Unzufriedenheit, der Suche nach Glück. Aber das ist ohnehin tief in mir drin. Die Melancholie und der Schmerz waren schon immer meine Begleiter. Sie sind es, die mich zum Denken verführen.
Es scheint, als wären Sie nicht nur auf der Bühne dem Pathos verfallen.
Verfallen nicht, aber ich habe keine Angst vor Pathos. Ich habe nur Angst vor der Lüge, und das schließt das hohle, falsche und auf Wirkung zielende Pathos ein. Das verabscheue ich. Aber das ehrliche Pathos trägt in sich eine Freiheit und Offenheit, von der das Theater profitieren kann.
Das bedingt eine Dramatik, in der die Möglichkeit zur Katharsis, zur Verwandlung angelegt ist. Zeitgenössischen Stücken fehlt meist diese existenzielle Fallhöhe. Ist das der Grund, warum Sie vor allem Klassiker inszenieren?
Bisher war es so. Diese Stoffe reizen mich mehr als jeder aktuelle Text, weil sie profunder sind. Manchmal erzählen alte, sogar antike Texte mehr über unsere Gegenwart als all das, was heute entsteht. Aber als Regisseur habe ich den klassischen Kanon jetzt beinahe durch. Und ich will Stücke nicht wiederholen. Deshalb werde ich mich am BE bald der Gegenwartsdramatik stellen. Unser Ziel ist, gemeinsam mit Autoren große Inhalte mittels einer aktualisierten Sprache neu zu erarbeiten. Was wollten Tschechow, Ibsen, Shakespeare, und was ist das Äquivalent heute? Das wären moderne Stoffe, die mich interessieren. Die findet man nicht im Vorübergehen. Das ist eine ungeheure Anstrengung, aber diese Mission haben wir uns dort gemeinsam auf die Fahnen geschrieben.
Noch mehr Auftragsarbeiten? Die Theater ersticken unter einem selbstgeschaffenen Berg von One-Flop-Wonders, denen nur noch der Auftraggeber etwas abgewinnen kann.
Nein, ich will gerade den Gegenentwurf zum aktuellen Uraufführungshype, zum wahllosen Vergeben von Auftragsarbeiten, bei dem die Autoren unter Zeitdruck stehen und nur irgendwas abliefern sollen, Hauptsache, Uraufführung. Ich frage mich da manchmal: Wo war die Dramaturgie, haben die das Stück überhaupt gelesen? Wo ist der Inhalt, oder geht es wirklich nur um einen Kaffeefleck auf dem Flokati? Dieses Programm meine ich nicht. Dashabe ich immer abgelehnt. Aber als Regisseur brauche ich jetzt eine neue Herausforderung, einen neuen Eros. Und ich glaube, dass sich durch das neue Programm am BE und die sprachlich zeitgemäße Verhandlung alter, großer Fragen, auch eine jüngere Generation neu und anders für das Theater gewinnen lässt.
Dramatiker pflegen derzeit gegenteilige Präferenzen. Produziert, weil nachgefragt, werden untheatralische Figurenaufstellungen wie Ferdinand von Schirachs „Terror“ oder Boulevardtheater à la Yasmina Reza.
Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, nach anderem zu suchen. Überall. Auch unter Film- und Fernsehmachern, auch im Ausland. Es gibt in Skandinavien und in England Dramatiker, die hervorragende Drehbücher schreiben. Warum können die das dort, warum fehlen sie hier? Unsere Uraufführungsheißluftmaschine verschleißt Autoren und normiert deren Werke. Als Regisseur finde ich es schon schwer, vier Arbeiten pro Spielzeit zu machen. Bei einem Dramatiker erscheint es mir undenkbar. Woher sollen Thomas Ostermeier, Roland Schimmelpfennig und andere ihre Ideen nehmen? Das ist eine deutsche Misere. Auch auf den Bühnen. Keines der französischen Nationaltheater würde es wagen, Yasmina Reza zu spielen. Dort wird auch die Nase gerümpft, dass wir es tun. Ich fasse solche Stücke nicht mit der Beißzange an. Mich muss ein Stoff zutiefst interessieren. Nur dann habe ich die Kraft und die Lust, mich mit Schauspielern in einer Probebühne einzuschließen. Ich kann mich nicht acht Wochen mit denkenden Menschen und dem Kaffeefleck auf dem Flokati in einem dunklen Raum verkriechen. Das fände ich lächerlich.
Dafür werden Sie künftig in der BE-Leitung mit Flokatiteppich-Kaffeekleckser Moritz Rinke zusammenarbeiten, dessen Gebrauchsdramatik ausschließlich aus Privatismen besteht. Passt das zusammen?
Moritz Rinke ist für das Autorenteam verantwortlich, er wird Autoren mit entdecken und Stückentstehungen begleiten. Nicht jedes Stück, das am BE auf die Bühne kommt, wird von ihm sein.
Rinke und Reza dürften auch deshalb erfolgreich sein, weil sich deren Vorlagen nicht dekonstruieren lassen und der Zuschauer zwangsläufig mitgenommen wird. Trotz aller konzeptionellen Komplexität zeichnen sich Ihre Arbeiten durch eine selten gewordene Lesbarkeit aus. Wie wichtig ist Ihnen diese Verständlichkeit?
Nichts ist bedeutsamer als das Publikum. Der einzige Vertrag, den ich gänzlich akzeptiere, ist die Eintrittskarte. Weil es Theater ohne Zuschauer nicht gibt. Theater müssen mitunter auch Durststrecken durchhalten können, wenn es eine neue künstlerische Vision erfordert. Man kann qualitativ hochwertig arbeiten und das Publikum bleibt aus. Das soll passieren, das darf passieren, manchmal muss es auch passieren. Wenn es aber zum Dauerzustand wird, müssen Theatermacher an der eigenen Vision zweifeln.
An dieser Selbstreflexion mangelt es im Theater derzeit gewaltig. Vielerorts wird das eigene und institutionelle Wohl eher im Kurshalten gesucht.
Das ist auch Resultat einer veränderten Sichtweise, eines anderen Rollenverständnisses. Es ist Mode geworden, Aufgaben zu übernehmen, für die andere Institutionen zuständig sind. Wenn neue Intendanten ihr Programm vorstellen, habe ich häufig den Eindruck, dass Amnesty International, die Obdachlosenhilfe und das Flüchtlingshilfswerk einen gemeinsamen Zukunftsort kreiert haben. Was aber komplett vergessen wird: Es handelt sich um ein Theater. Diese Kollegen biedern sich einerseits dem Zeitgeist an und ignorieren andererseits die Aufgaben des Theaters. Dahinter verbirgt sich eine große Lüge. Es wird niemandem geholfen, es wird nur so getan. Und Theater verliebt sich dann in diese sozialen Projekte, die nichts anderes sind als eitle Pose. Deshalb habe ich immer ein doppelt übles Gefühl, wenn ich davon höre oder lese. Damit schafft sich das Theater ab.
Und wie kann es bestehen?
Das Theater muss sich auf seine archetypische Aufgabe besinnen. Auf den Text, auf ein Ensemble, auf Schauspielkunst. Auf große Stoffe, die mit Öffentlichkeit nur in diesem Theatron stattfinden können, der damit zum großen Denk- und Diskursraum wird. Und der mich anders entlässt, als ich ins Theater gekommen bin. Nur dann hat das Eintrittsgeld seine Berechtigung. Darin liegt unsere Verantwortung.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.