„Literaten meiden heute den Irrsinn“

Interview Auf neue Prosa von Marcel Beyer warten wir seit Jahren. Sein Wohnort Dresden böte doch wahrlich genug Stoff. Wann also kommt endlich der große Nach-Nach-Wende-Roman?
Ausgabe 31/2015

Er gilt als verbindlicher Rebell, für den New Yorker ist er „einer der besten Romanciers der Gegenwart“: Marcel Beyer, dem vor 20 Jahren mit dem Roman Flughunde ein Überraschungserfolg gelang, hat noch nie klare Aussagen gescheut. Was hält er von der deutschen Gegenwartsliteratur, ihren Ausprägungen und Auslassungen? Und warum gibt es eigentlich noch keinen Roman über Uli Hoeneß?

der Freitag: Herr Beyer, Sie haben lange keinen Roman mehr veröffentlicht, dafür so ziemlich alles andere. Es sind drei Opernlibretti, viele Essays und ein Gedichtband von Ihnen erschienen. Haben Sie die Lust an der Prosa verloren?

Marcel Beyer: Nicht verloren. Aber bevor ich einen Roman beginne, muss ich nicht nur verführt, sondern überzeugt werden. Ich muss einen Raum ausleuchten wollen, ein Charakter muss mich fesseln, damit ich den Leser binden kann und er mir über 300 oder 400 Seiten folgt. Ich warte immer noch auf eine Figur, auf einen Stoff, in den ich mich so verbeißen kann, dass ich fünf oder acht Jahre damit verbringen will.

Themen gibt es genug. Sie wurden in Westdeutschland geboren und leben in Dresden, ein spätestens seit Pegida sehr dankbarer Schauplatz für den großen Nach-Nach-Wende-Roman, der immer noch fehlt.

Ich habe nie am Zeitstrang der Aktualität entlanggeschrieben und will das auch jetzt nicht. Literarische Figuren müssen für mich eine tiefere Dimension haben, auch wenn sie selbst nicht darum wissen. Das dürfte mit einer sentimental-aggressiven Gestalt wie Pegida-Initiator Lutz Bachmann schwierig werden, einmal abgesehen davon, dass dezidiert anti-intellektuelle Bewegungen meine Fantasie nicht anregen. Sie sind ja auch sprachlich äußerst fade.

Etliche Themen, die als ausverhandelt galten, sind zu Wiedergängern geworden. Wir diskutieren über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen, weltweit nimmt der religiöse Fundamentalismus zu und in Europa erstarkt der Nationalismus. Lessings progressives Geschichtsverständnis, wonach es in der Weltgeschichte eine stetige Entwicklung zum Besseren gibt, scheint gerade widerlegt zu werden.

Lessing war auch Sachse und damit wissenschaftlich gehandicapt. Ich würde gerne einmal etwas schreiben, was nicht so tief in der Vergangenheit wurzelt. Ich merke aber, wann immer ich damit beginne, dass die nichterklärungsbedürftige Gegenwart, in der ich arbeite, sich schon wieder in erklärungsbedürftige Historie verwandelt hat, sobald der Text abgeschlossen ist. Selbst wenn er nur 20 oder 30 Seiten umfasst. Aber wenn aus Gegenwart so schnell Geschichte werden kann: Fehlt diesen Akteuren und den Debatten um sie dann nicht eine Individualität, die sie früher kennzeichnete und die sie literarisch interessant machen würde?

Shakespeares Erzschurken mit ihrer sinistren Grandezza werden sich in einer Demokratie kaum finden lassen.

Staatstheoretisch begrüßenswert, künstlerisch bedenklich. Was will man über Uli Hoeneß, dieses Kind seiner Zeit, schon zu Papier bringen? Von einem in Fantasiewelten verfangenen Karl-Theodor zu Guttenberg ganz zu schweigen.

Zur Person

Marcel Beyer, 49, wurde im schwäbischen Tailfingen geboren und wuchs in Kiel und am Niederrhein auf. Seit 1996 lebt er in Dresden. Mit dem Roman Flughunde, der die NS-Zeit mit der Gegenwart kurzschloss, gelang ihm 1995 der Durchbruch. Sein letzter Roman Kaltenburg erschien 2008

Das würde auch erklären, warum es in der deutschen Gegenwartsliteratur einen Trend zu Privatismen, zur banalen Selbstbespiegelung und zum Ausblenden der Welt gibt.

Ja, der ist unübersehbar. Allerdings merke ich, dass hier insbesondere jüngere Schriftsteller in einem Teufelskreis gefangen sind: Sie nehmen sich den Erst-einmal-selbst-etwas-erleben-Vorwurf älterer Kollegen zu Herzen. Dabei sind diese doch selbst Kinder der Kohl-Ära, die, wäre der Mauerfall nicht gewesen, heute in unserer Erinnerung als ein 16 Jahre währendes Nichts dastünde. Durch das Schreib-nur-was-du-weißt-Dogma bleiben Texte am Selbsterlebten hängen. Ich bin überzeugt, ein Schriftsteller muss überhaupt nichts erleben, er muss auf seine Imaginationskraft vertrauen. Jemand mag Wochen und Monate auf einer Parkbank sitzen – wenn er nur seine Umgebung fein beobachtet, kann dies Material für einen hervorragenden Roman abgeben. Die Selbstversicherung im eigenen sozialen Milieu interessiert mich nicht. Ich will nicht lesend oder schreibend in den Blick nehmen, was für mich als Leben selbstverständlich ist.

Klingt so, als ob wir von Ihnen keinen Roman mehr erwarten dürfen.

Oh nein. Nur begleiten mich meine Figuren und ihre Welten immer weit über den Abschluss eines Romans hinaus. Ich muss sie erst hinter mir lassen. Das braucht Zeit.

Aber Sie schreiben ein Libretto nach dem anderen. Offenbar sind hier Ihre kreativen Rekonvaleszenzphasen erheblich kürzer.

Das Musiktheater hat mich noch nie ermüdet. Auf einer Opernbühne herrscht immer Irrsinn, das ist etwas anderes als etwa im Sprechtheater. Dort wird auf der Bühne das Leben jenseits der Bühne nachgespielt, in der Oper aber kann jemand auftreten, der eben einen Mord begangen hat, und er beginnt zu singen. Verdammt, warum denn das, was ist da los? Das ist das Großartige, was die Oper immer ausgezeichnet hat. Jeder Irrsinn ist möglich.

Und dieser Irrsinn fehlt der Gegenwartsliteratur?

Ich will es so formulieren: Mir gibt es in der Literatur zu wenig Kino und zu viel Fernsehen. Denn für die Produktionsbedingungen dort gilt die Prämisse: Wir haben nicht viel Geld, wir haben nicht viel Zeit, also setzen wir unser gepflegtes Personal in ein Wohnzimmer und machen ein paar Close-ups aufs Gesicht. So funktioniert Fernsehen. Kino dagegen heißt, unglaubliche Bilder im Kopf zu haben und sich mit den Produzenten zu streiten, damit diese Bilder Filmwirklichkeit werden. Über genau diese Möglichkeit verfügt auch ein Schriftsteller, er kann pro Druckseite ein Budget von 600.000 Euro verschleudern, wenn er will. Er kann Kino machen. Kann etwa Landschaften zeigen, ohne dass innerhalb von zehn Sekunden zwei Leute damit beginnen müssen, ihre Beziehung oder die deutsche Ökoverpackungsverordnung zu diskutieren. Wenn ich dann tolle Kino-Bücher von Clemens Setz oder Franz Friedrich lese, frage ich mich immer, warum andere Autoren ohne Not budgetschonend schreiben.

Bei historischen Stoffen, die gerade Konjunktur haben, wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Es fällt auf, dass die fiktionale Aufarbeitung beider deutschen Diktaturen seit der Wiedervereinigung stets in Phasen, aber nie parallel erfolgte. Gibt es da einen Verdrängungswettbewerb?

Die mich beunruhigende Frage dabei: Macht es etwa für das Fernsehpublikum einen Unterschied? Wenn Maria Furtwängler mit staubigen Wangen und Kopftuch durch eine Trümmerstadt läuft – interessiert es noch jemanden, ob der Film in den frühen 40ern oder in der DDR spielt? Verschmilzt nicht in diesen sogenannten Historiendramen das 20. Jahrhundert in Deutschland zu einem allgemeinen Mulm, zu einem vagen Früher, in dem die Menschen zwar böse, aber auch tapfer, zwar arm, aber auch herzensgut waren?

Wenn der letzte Zeitzeuge gestorben ist, droht dieser massenmedial erzeugte Mulm zum kollektiven Geschichtsbild zu werden.

Furchtbar, oder? Vor allem deshalb, weil die Vergangenheit tatsächlich einem ständigen Bewertungsprozess unterworfen ist, der sich nur aus der Gegenwart erklären lässt. In Dresden ist die Bombardierung zum modernen Ursprungsmythos der Stadt geworden. Mir hat noch kein Dresdner mit leuchtenden Augen vom Herbst 1989 erzählt. Die SED bemühte lange Goebbels Diktum von den angloamerikanischen Terrorbombern. Mit der Entspannungspolitik hat sich das plötzlich geändert. Früher gingen die Dresdner spontan zur Ruine der Frauenkirche, um Blumen abzulegen. Nach der Wende wurde die Erinnerung an den Angriff erneut zum Ritual und institutionalisiert. Heute versuchen Rechtsradikale, das Datum für sich zu nutzen. Nicht nur in Dresden ist es deshalb unmöglich, das Gewesene als statische und ortsunabhängige Zustandsbeschreibung zu porträtieren.

Viele Autoren kleben dennoch am gesellschaftlichen Plusquamperfekt, das Präsens wird bestenfalls zur lässlichen Fortschreibung degradiert. Ein Roman, der sich mit den sozialen Verwerfungen im unteren Drittel der Gesellschaft befasst, würde sich wohl auch verkaufen. Dennoch schreiben deutsche Literaten seit Jahren um dieses Thema herum. Längst sind viele „Tatort“-Folgen gesellschaftskritischer als die Belletristik. Wie kommt das?

Ob der Tatort tatsächlich gesellschaftskritisch ist, wäre eine andere Diskussion. Ich würde eher sagen, er ruft mit nostalgischem Impetus Topoi der Gesellschaftskritik aus den 70er Jahren auf. Was die schleichenden Verwerfungen angeht: Sonntags sehe ich am Dresdner Hauptbahnhof die ostdeutschen Arbeitsmigranten, die in den Westen fahren, um am Freitag zurückzukommen. 600, 800 Kilometer zwischen Wohn- und Arbeitsort, da entsteht gerade eine neue Gesellschaft, die es so im Westen nicht gibt. Aber wollen Leser wirklich wissen, wie es um die soziale Wirklichkeit bestellt ist? Märchenversprechen scheinen mir gefragter zu sein.

Blindheit versus Wirklichkeit: Das wäre doch ein Thema für Ihren nächsten Roman.

Ein Verhältnis, mit dem alle meine Romanfiguren kämpfen. Deren Blindheit oder Verblendung kann ich jedoch nur im Zusammenhang mit einer von mir entworfenen, gewissermaßen hyperrealen Wirklichkeit in Schwingung versetzen. Was mir aber vorschwebt, ist ein schneller Roman, in einem Zug geschrieben, ohne Recherchebedarf. Davon träume ich seit 20 Jahren.

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