Treffen sich deutsche Intendanten, fühlt man sich als Beobachter manchmal an E. T. A. Hoffmanns Erzählung Seltsame Leiden eines Theaterdirektors erinnert. Sie hadern mit der Welt, klagen über treulose Schauspieler, wünschen sich mehr Geld, lamentieren über den Betrieb – und gehen auseinander, ohne dass Einsicht und Erkenntnis durch die Tat geadelt würden. Bis zum nächsten Mal, es wird schon irgendwie besser werden.
Statt in jener „berühmten Freien Reichsstadt“, in der die beiden namenlosen Protagonisten Hoffmanns sich zufällig treffen, kommen ihre realen Abbilder seit 2010 immer gegen Jahresende in der Evangelischen Akademie Hofgeismar zusammen. Wurde dort hinter verschlossenen Türen bislang nur die Spitze des Eisbergs vermessen, dem sich das deutsche Theaterschiff immer schneller nähert, so war es diesmal anders. Das Verdienst dafür gebührt nicht dem längst zur Traditionskompanie mutierten Deutschen Bühnenverein, sondern einzelnen Theatermachern. Diese haben erkannt, dass es der Entmystifizierung des Betriebs bedarf, um dem Theater seinen Mystizismus – der auch immer einer moralischen Tatkraft entsprang – zurückzugeben.
Markus Müller, Intendant in Oldenburg und bald in Mainz, gehört dazu. Mit der Vorbereitung der Tagung beauftragt, hatte Müller mit Daniel Ris und Marion Tiedtke zwei eigenständige Denker zu Referenten bestimmt. Ris, Regisseur und einer der Initiatoren von „Art but fair“ – einer Gruppierung, die gegen die unhaltbaren Zustände an vielen Theatern opponiert –, stellte in Hofgeismar seine Masterarbeit Unternehmensethik für den Kulturbetrieb vor. Tiedtke, Schauspiel-Professorin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt sowie renommierte Dramaturgin, referierte über Positionierung und Aufgaben der Theater.
Sozialer Wildwuchs
Ris und Tiedtke mahnten an, woran es innerhalb der Szene nach innen wie nach außen mangelt: Solidarität und Weitsicht. Ris forderte eine Diskussion über soziale und ethische Standards, an die sich die Theater künftig halten sollen. Tiedtke schlug vor, dass neue Intendanten gemeinsam mit der Kulturpolitik konkrete Ziele vereinbaren, wie sich die Häuser inhaltlich und strukturell in der Stadtgesellschaft verorten. Damit könne auch dem Diktat der Auslastung – ein Grundübel, weil die Theater immer mehr Produktionen herausbringen, um die negativen Folgen eines Fehlschlags zu minimieren – begegnet werden. Geteilte Verantwortung ist halbe Verantwortung.
Beide Themen hätten nicht besser gewählt sein können. Während Union und SPD sich auf einen Mindestlohn verständigt haben, existiert in der Theaterszene ein durch den Bühnenverein mindestens tolerierter, mitunter sogar gewollter sozialer Wildwuchs. Der hat wenig mit gekürzten Subventionen und viel mit dem Überangebot an Schauspielern zu tun. Wie auch mit der Verrohung der Führungskultur. „Gemeinschaftssinn und Rücksichtnahme sind weniger ausgebildet. Das ist nicht nur wirtschaftlich bedingt“, sagt Rechtsanwalt Heiko Wiese, der seit 18 Jahren Mitglieder der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) vertritt. Früher wären Auseinandersetzungen vermehrt einvernehmlich gelöst worden, heute setzen die Theaterleitungen auf Konfrontation. Dies resultiere aus verschobenen Kräfteverhältnissen („Generell hat die Klagefreude und Wehrhaftigkeit der Bühnenmitarbeiter ab-, die Angst zugenommen“) und aus einer neuen Generation von Intendanten, die sich weniger als Künstler, mehr als Manager verstehen.
Und das Bewusstsein bestimmt die Gehaltsforderung. Klaus Weise, bis zum Ende der vergangenen Spielzeit Generalintendant des Bonner Theaters, erhielt 320.000 Euro jährlich und damit mehr als der Bundespräsident. Oliver Reese, Intendant in Frankfurt, wird ab Mitte nächsten Jahres 220.000 Euro nebst dem Honorar für zwei Inszenierungen bekommen. Bis zur Spielzeit 2017/18 soll sein Grundgehalt auf 240.000 Euro steigen – während die monatliche Mindestgage von Schauspielern derzeit bei 1.650 und das durchschnittliche Salär bei 2.500 bis 3.000 Euro liegt.
An Mehrspartenhäusern zeigen sich soziale Unwuchten nicht nur vertikal, sondern auch horizontal. Schauspieler sowie Tänzer verdienen wenig und sind schlecht abgesichert, für Orchestermusiker gilt das Gegenteil. Am Volkstheater Rostock prallen diese Welten gegenwärtig aufeinander. Weil das Vierspartenhaus nicht imstande war, eine zwischen Bühnenverein und Deutscher Orchestervereinigung (DOV) verabredete Gehaltserhöhung umzusetzen, trat es fristlos aus dem Bühnenverein aus. Ein Akt der Notwehr: Ursprünglich hatte der Bühnenverein versichert, nur einem Flächentarifvertrag zuzustimmen, der eine Sonderregelung für Rostock enthält. Auf der entscheidenden Sitzung des Tarifausschusses am 21. November in Mainz wurde der Abschluss mit nur einer Gegenstimme dennoch durchgewunken. Auf das Volkstheater wären so jährliche Mehrkosten von beinahe einer halben Million Euro zugekommen, die es nicht hätte schultern können. Unverhohlen riet Bühnenvereins-Geschäftsführer Rolf Bolwin deshalb zurVerkleinerung des Orchesters – was arbeitsrechtlich kaum möglich ist und deshalb zu Kündigungen in anderen Sparten geführt hätte.
Dabei hatte sich eine andere Lösung angeboten. Orchestermusiker werden nach der Größe des Klangkörpers bezahlt, dem sie angehören. Die Norddeutsche Philharmonie in Rostock gilt als A-Orchester, obwohl sie nur noch 73 statt der erforderlichen mindestens 99 Musiker hat. Wäre das Orchester korrekt eingestuft, lägen die Personalkosten dafür nicht wie jetzt bei fünf Millionen und, würde der Tarifabschluss exekutiert, bei 5,5 Millionen, sondern nur bei 4,6 Millionen.
Im monetären Streichkonzert
Die vor der Mainzer Ausschusssitzung versendete Beratungsvorlage zeigt, dass man sich dieses Problems bewusst war. Passiert ist dennoch nichts. Bühnenverein und Gewerkschaft hätten das Theater, wollte es nicht Entlassungen vornehmen, in die Insolvenz getrieben.
Dieses Beispiel organisierter Entsolidarisierung ist ebenso Symbol wie Menetekel. Überfällige Strukturreformen werden vertagt, dafür die Missstände konserviert und verwaltet – Realität in einem System, das sich zunehmend selbst kannibalisiert. Probleme werden nach unten durchgereicht, bis sie dort ankommen, wo sie nicht gelöst werden können.
Zu Fanfarenbläsern ihrer selbst gewordene Bürokraten finden, um wenigen viel mehr zahlen zu können, Entlassungen akzeptabel. Und das in einer Szene, die zur Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Sonderwinkelhaftigkeit und unveränderten finanziellen Privilegierung vorgibt, auf der Bühne die Werte von Aufklärung und Demokratie zu verteidigen. Diese Diskrepanz hat, bezogen auf die Arbeitsbedingungen, auch GDBA-Anwalt Wiese erfahren: „Normen müssen gelebt werden, und das bedeutet auch, dass bestimmte Verhaltensformen geächtet werden. Das passiert in der Branche nicht.“
Der fristlose Austritt des Volkstheaters Rostock läutet vielleicht eine Zeitenwende ein. Andere Häuser, etwa Schwerin, stehen vor ähnlichen Herausforderungen und könnten versucht sein, sie auf die gleiche Weise zu lösen. Bolwin scheint das zu ahnen. In der Kölner Zentrale des Bühnenvereins regiert die Nervosität. Und schlägt bisweilen in Aggression um. Bemerkenswert sei, schrieb Bolwin an Volkstheater-Geschäftsführer Stefan Rosinski, dass der ihn nicht informiere, wenn die Rostocker Bürgerschaft über den Austrittsbeschluss berate. Und fragt, ganz im Stil eines Kultur-Kommandeurs, der einen unbotmäßigen Untergebenen zum Rapport befiehlt: „Mich würde interessieren, wie Sie den inhaltlich und juristisch unzutreffenden Feststellungen des Oberbürgermeisters entgegenzutreten beabsichtigen. Gibt es schon eine schriftliche Stellungnahme Ihrerseits zu diesen unhaltbaren Positionen?“
Käme es zu weiteren Austritten, wäre es nur Phantasielosigkeit und Indolenz des Bühnenvereins geschuldet. Eine knappe Stunde dauert das Telefonat mit Bolwin, während dem er – die irgendwann begonnene Strichliste offenbart es – achtmal darauf verweist, dass mehr Geld im System zu weniger Verwerfungen führen würde. Aber das Zerrbild des böswilligen Oberbürgermeisters, der seine Bühnen mutwillig in Grund und Boden spart, taugt nicht als Ausrede.
Der Strukturwandel, die demografische Entwicklung, in Ostdeutschland zudem die Deindustrialisierung ganzer Landstriche – all das bürdet Ländern und Kommunen finanzielle Lasten auf. Wenn weniger zu verteilen ist, bleibt auch den Theatern weniger. Das ist ungerecht, weil Theater nicht die Finanznot der Träger verursacht haben, und zugleich angemessen, weil sie beim monetären Streichkonzert mit anderen sozialen Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schwimmbädern, Schulen oder Museen konkurrieren. Sie von allen Zumutungen auszunehmen, wäre in einem Land, in dem nur jeder Zehnte regelmäßig und die Hälfte der Bevölkerung überhaupt nicht ins Theater geht, weder durchsetzbar noch demokratisch legitimiert. Noch immer sind zwei Drittel der Deutschen damit einverstanden, dass die Häuser gefördert werden. Manche Theatermacher und ihre Vertreter scheinen das unbedingt ändern zu wollen.
Martin Eich ist freier Theaterkritiker
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