Im Mondlicht steht ein Mangobaum

Paradiso Tropical am Amazonas in Brasilien Dona Mariana lebt hinter sechs Schlössern, der großen Mauer und einem Elektrozaun

Es ist zwölf Uhr mittags, die Sonne brennt wie jeden Tag unbarmherzig auf die Stadt Sao Luis am Rande Amazoniens. Dona Mariana sitzt im Schaukelstuhl auf ihrer Veranda. Zufrieden schaut sie in den Garten. Sie hat den ganzen Samstagmorgen den Rasen geharkt und die Pflanzen gewässert. Der Mangobaum trägt jetzt schon große Früchte, auch die Kokospalme quillt fast über. Wenn Dona Mariana unter ihr hindurch geht, schaut sie immer nach oben, damit sie nicht von einer herabfallenden Kokosnuss getroffen wird. Viele Menschen in Sao Luis sind in diesem Jahr bereits von Kokosnüssen ernsthaft verletzt worden. Wenn Dona Mariana hier etwas passiert, würde es niemand mitbekommen. Frühestens in einer Woche, wenn ihre Hausangestellte wieder erscheint, würde ein solcher Unfall im Garten bemerkt. Denn Dona Mariana wohnt allein in ihrer grünen Oase und verlässt das Haus nur noch selten.

Mehr Angst als vor herabfallenden Kokosnüssen hat sie freilich vor Überfällen. Jeden Tag liest sei davon in der Zeitung, und die Nachrichten im Fernsehen bringen nichts anderes. Deshalb hat Dona Mariana um ihr Haus eine drei Meter hohe Mauer bauen lassen. Auf dem Sims sind spitze Glassscherben einbetoniert. Um ganz sicher zu gehen, dass niemand über die Mauer steigt, gibt es noch einen Elektrozaun extra. Dona Mariana kann sich noch erinnern, wie es in dieser Stadt vor 20 Jahren aussah. Sie hatte ein kleines Zäunchen um ihren Garten gespannt und schwatzte mit den Nachbarn. Heute geht das nicht mehr, weil alle Nachbarn solche Mauern haben wie Dona Mariana.

Dona Mariana nimmt ihren ganzen Mut zusammen

Wenn sie das Haus verlässt und die Straße entlang zum Bus geht, kommt es Dona Mariana manchmal vor, als befinde sie sich in einem riesigen Gefängnis mit luxuriösen Einzelzellen in der Größe von Einfamilienhäusern. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn sie an einem der Wachposten vorbeikommt, die an jeder Straßenecke in einem höher gestellten Holzverschlag herumlungern. Die Wachposten passen auf, dass kein Fremder die Straße betritt. Wenn Dona Mariana Besuch erwartet, kündigt sie das dem Wachposten an. Als neulich zwei Freunde aus Chile zu Besuch kamen, wäre es beinahe zu einem Unglück gekommen. Das Pärchen kam von der Busstation. Der Wachposten dachte, dass er endlich einmal etwas zu tun hätte und sprach die beiden mit vorgehaltener Pistole an. Es war schließlich dunkel und die beiden ging zu Fuß. Wer zu Fuß geht, ist immer verdächtig. Da die beiden den Pistolero nicht verstanden, dachten sie, es handele sich um einen Überfall. Sie hielten ihm ihre Handys, ihre Portemonnaies und ihre Uhren hin, bis Dona Mariana heraus kam und das Missverständnis aufklärte. Im Garten sitzend, hatte sie die Rufe des Postens gehört und sich erinnert, dass sie vergaß, ihm die Fremden anzukündigen.

Der Vorfall war Dona Mariana sehr peinlich, aber was will man machen? Sie könnte unmöglich auf den Wachposten verzichten, denn alle in der Nachbarschaft des Paradiso Tropical bezahlen dafür. Außerdem könnte es sein, dass sich die Wachposten, wenn sie nicht mehr bezahlt würden, an ihr rächen. Dona Mariana weiß, dass sie unter dem Kommando eines bekannten Drogendealers aus der benachbarten Favela stehen, und der kann sehr böse werden. Es ist besser, dass man sich gut mit ihm und seinen Leuten stellt.

Dona Mariana schließt erst die Tür ihres Hauses mit zwei Schlössern, dann das Gitter mit zwei Vorhängschlössern ab, geht durch den hübschen Vorgarten mit der Acaípalme zum Tor, löst die beiden Riegel, schließt die zwei Schlösser dort auf und tritt auf die Straße, auf der niemand entlang schlendert, und geht am Wachposten vorbei um die Ecke in Richtung der Hauptstraße. Einen Bürgersteig gibt es nicht. Entweder befindet sich am Straßenrand eine Mischung aus Schotter, Sand und Müll oder die Hausbesitzer haben den Platz genutzt, um Auffahrtrampen für ihre Garagen zu bauen. Eigentlich sind sie per Gesetz dazu verpflichtet, einen Fußweg anzulegen, aber außer Dona Mariana geht hier sowieso niemand zu Fuß. Also gestalten die Eigentümer die Auffahrten für ihre Autos je nach Gusto. Für Fußgänger sind die in verschiedenen Winkeln angeschrägten Rampen eine Zumutung. Deshalb geht Dona Mariana auf der Straße. Wenn sie eine Kreuzung überquert, muss sie sehr vorsichtig sein. Niemand rechnet damit, dass hier eine Fußgängerin unterwegs sein könnte, und so passieren die Autofahrer die engen Gassen mit hoher Geschwindigkeit. Da auch die Kreuzungen von beachtlichen Mauern gesäumt sind, gibt es manchen toten Winkel, in dem Dona Mariana nicht gesehen wird, wenn sie die Straße überquert. Deshalb hört sie immer genau hin, ob ein Auto in der Nähe ist.

Die Bushaltestelle befindet sich auf der anderen Seite der Avenida. Daher muss sie eine sechsspurige Straße ohne Mittelstreifen überqueren. Manchmal steht Dona Mariana fünf Minuten an der Avenida und wartet, bis sie eine Lücke im Fahrzeugstrom ausmacht. Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen und geht, nein rennt, so schnell es geht über die Straße. Obwohl sie eine alte Dame ist, würde von den Autofahrern niemand auf die Idee kommen, die Geschwindigkeit zu drosseln. Stattdessen scheint es Dona Mariana manchmal, also ob einige sogar noch beschleunigen, wenn sie die Straße überquert.

Aber irgendwann steht sie dann doch an der Haltestelle und wartet auf den Bus. Nach zehn Minuten kommt er. Sie steigt ein und ist froh, vom Wartehäuschen weg zu sein. Abends ist es dort sehr gefährlich, erst vergangene Woche sind an einer Haltestelle im Norden der Stadt fünf Menschen aus einem vorbei fahrenden Auto erschossen wurden. Man weiß nicht warum, in der Zeitung stand, die Leute hätten etwas mit Drogen zu tun gehabt. Dona Mariana glaubt aber, dass allenfalls ein Verbrecher unter den Opfern war. Ihrer Meinung nach waren die anderen vier unbescholtene Bürger und eben zur falschen Zeit am falschen Ort. Wegen solcher Geschichten hat Dona Mariana jedes Mal ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie abends auf den Bus wartet. Zwar ist so etwas in ihrem Viertel noch nie passiert, aber es gibt immer ein erstes Mal.

Dona Mariana fällt fast hin, fängt sich aber gerade noch

Kaum, dass Dona Mariana sich im Bus befindet, tritt der Busfahrer das Gaspedal durch und beschleunigt wie ein Verrückter. Dona Mariana fällt fast hin, kann sich aber, mit aller Macht an einen Haltegriff klammernd, gerade noch fangen. Mühsam kämpft sie sich zum Kassierer durch, der auf einem erhöhten Sitz am linken Fahrzeugrand trohnt. Sie führt ihren elektronischen Altenausweis an das Lesegerät, das funktioniert natürlich wieder nicht. Daraufhin hält der Kassierer seine Chipkarte vor die Diode und gibt das Drehkreuz frei. Dona Mariana zwängt sich durch den Bus, hat aber Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Als sie sich auf einen freien Platz setzen will, bremst der Fahrer ebenso unvermittelt wie er vorher beschleunigt hat, da er gerade die nächste Station erreicht. Dona Mariana hält sich mit ganzer Kraft am Haltegriff des Vordersitzes fest und zieht ihren Körper auf den freien Platz. Wenn es doch bloß nicht eine ganze Stunde wäre, die sie in diesem Höllenfahrzeug eingesperrt ist, um ihr Ziel zu erreichen.

Während der Fahrt schaut sie aus dem Fenster. Der Bus fährt durch immer fahler beleuchtete Viertel. In Vicente Fiado wird Dona Mariana nervös. Ihr Körper verkrampft sich. Wachsam beobachtet sie alle neuen Passagiere. Zweimal hat sie es hier schon erlebt, dass Bewaffnete den Bus stürmten und allen Fahrgästen die Wertgegenstände abnahmen. Schlimmer als den Verlust ihrer Uhr und der paar Reais in ihrem Portemonnaie empfand sie das Gefühl, diesen Strolchen ausgeliefert zu sein, ohne sich wehren zu können. Doch diesmal geht alles gut. Sie erreicht das Haus ihrer Klavierlehrerin in der Innenstadt ohne besondere Vorkommnisse.

Beim Klavierspielen vergisst Dona Mariana alles um sich herum. Sie geht ganz in der Musik auf. Umso schlimmer, wenn die Stunde vorbei ist und der Rückweg zu ihrem paradiesischen Garten bevorsteht. Die Rückfahrt gegen zehn fürchtet Dona Mariana noch mehr als den Hinweg. Immer häufiger denkt sie daran, wie schön es hier einmal war und wie viel Angst sie jetzt immer hat. Schlimmer als die Gewalt ist die Angst vor der Gewalt, sagt sie immer zu ihren Freundinnen, aber eigentlich sagt sie es zu sich selbst. Die Klavierstunde ist für sie der einzige Anlass in der Woche, aus dem Haus zu gehen. Was soll sie auch draußen? Sie hat doch alles, was sie braucht, in ihrem Garten, dem kleinen tropischen Paradies, wie sie ihn immer nennt.

An ihrem Haus angekommen, schließt sie alle sechs Schlösser auf und hinter sich wieder zu. Erschöpft sitzt sie in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda und schaut auf den Mangobaum im Mondlicht. Dieser Anblick versöhnt sie wieder mit der Welt und mit Sao Luis am Rande Amazoniens Es ist doch schön in Brasilien zu leben. Dann schläft sie beruhigt ein.

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