Ende der Verdrängung

Afghanistan Wie sehr beim Bombardement von Kunduz vernebelt und gelogen wurde, steht inzwischen außer Frage. Ob der Untersuchungsausschuss für Klarheit sorgt, bleibt zweifelhaft

Wer den Tatort des Luftschlags vom 4. September und den Umgang der NATO mit ähnlich „Kollateralschäden“ kannte, der war angesichts der kolportierten Version über die Ereignisse von Anfang an skeptisch. Kunduz – das bleibt zu hoffen – dürfte nun eine kritischere Grundhaltung zu offiziellen Verlautbarungen aller Art aus Afghanistan auslösen. Doch so wichtig die Wahrheitssuche über den Luftangriff ist – es darf nicht vergessen werden: Es geht bei diesem Einsatz der Bundeswehr vorrangig um die afghanische Bevölkerung. Um die zu unterstützen schicken wir, so die offizielle Begründung, unsere Soldaten.

Schutz gegen Korruption

Aus Sicht der einheimischen Bevölkerung geht es weniger um Krieg oder Nicht- Krieg. Die Menschen in Kunduz und anderen Regionen wollen deutlicher als bisher spüren, das internationale Militärkontingent tut etwas für ihre Sicherheit im Alltag. Es schützt sie nicht nur gegen die Taliban, sondern auch gegen Räuber und Banditen, gegen Korruption und Erpressung durch den eigenen Staat. Doch von einem solchen Verständnis der Afghanistan-Mission ist kaum etwas zu spüren. Gerade hat die NATO das neue Kabinett des Präsidenten Karzai gelobt. Dabei stehen dort nach der erneuten Nominierung vieler Minister die Zeichen auf ein „Weiter so“.

Wir sind Zeugen einer wachsenden Entfremdung zwischen Afghanen und NATO-Militär. Nicht weil eine Mehrheit der Bevölkerung mit den Taliban sympathisiert, sondern weil ein von der Präsenz fremden Militärs geprägter Alltag Einschränkungen und Ängste mit sich bringt. Wenn die Bundeswehr unterwegs ist, achten die Menschen auf Abstand. Der fremde Soldat zieht womöglich Selbstmordattentäter an. Wer als Afghane mit seinem Auto einen ISAF-Konvoi überholt, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Dabei will er vielleicht nur die kranke Frau ins Hospital bringen und hat es eilig.

Die Rhetorik vom „Krieg gegen den Terror“, der auch Präsident Obama anhängt, vernebelt bis heute wesentliche – oft lokale – Ursachen von Konflikten in der afghanischen Gesellschaft. Wer dies erkennen will, braucht profunde Kenntnisse der afghanischen Kultur und Tradition. Moderne Aufklärungstechniken helfen da nicht weiter, eher Gespräche mit Taliban wie mit Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, die viel zu oft unbeachtet bleiben, weil Deutschland – der Westen überhaupt – gewendete Warlords stützt. Die Menschen in Afghanistan wollen Arbeit und eine Perspektive. Sie fragen sich zu Recht, warum keiner die Bedingungen dafür schafft. denn der bewaffnete Aufstand hat auch etwas mit allgegenwärtiger Armut zu tun.

Wenn es stimmt, dass Afghanistan militärisch nicht zu beherrschen ist, weshalb läuft dann ein immer größerer Teil der Hilfsgelder über das Militär? Wer hat das etwa bei den EU-Hilfen zu verantworten? Warum entscheiden NATO-Offiziere über die Mittelvergabe für Schul- oder millionenschwere Landwirtschaftsprojekte ? Ein Teil der zivilen Helfer hat wegen dieser Praxis längst resigniert, sich zurückgezogen oder angepasst.

System gezielten Betrugs

Was beim Luftschlag von Kunduz vertuscht wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs. Der deutschen Öffentlichkeit dürften schmerzliche Einsichten bevorstehen. Die Affäre um die Firma Ecolog und ihre wenig transparente Arbeit in Afghanistan zeigen, welche Doppelmoral hinter Kritik an der Korruption in Afghanistan steht. Schwindel und Vernebelung unter deutschen wie internationalen Hilfs- und Beraterorganisationen gehören seit Jahren zum Alltag. Experten, die lange selbst an zentraler Stelle beteiligt waren, sprechen von einem System gezielten Betrugs. Auch hier wissen deutsche Politiker mehr als sie bereit sind zuzugeben. Sie tragen so dazu bei, fragwürdige Strukturen zu stützten.

Es war dies die erste deutsche „Kriegsweihnacht'“ seit langem, von der viele nichts bemerkt haben mögen, aber wenn renommierte Politikwissenschaftler erklären, deutsche Soldaten müssten kämpfen lernen, reibt man sich verwundert die Augen. Die gleichen Wissenschaftler wären hilfreich, könnten sie auf die Frage antworten, von welchen strategischen Interessen sich die Bundesregierung in Afghanistan tatsächlich leiten lässt. Die Politik schweigt sich darüber aus.

Die Präsidentschaft Karzais trotz gefälschter Wahl, das Internierungslager Bagram oder die Milliarden an Hilfsgeldern, die überwiegend in die Geberländer zurückfließen – all dies sind Beispiele dafür, wie Afghanistan zum Spielball der Mächte wurde. Ist es übertrieben zu behaupten, dass da eine Nation politisch vergewaltigt wird? Der Westen hat allein Augen für die Vergewaltigung durch Burka und afghanisches Patriarchat.

Er wolle „den Erfahrungen und der Kultur der Afghanen entsprechen“ – so hat es Verteidigungsminister zu Guttenberg ausgedrückt. Wer diesen Anspruch folgt, sollte verstehen lernen, wann sich Afghanen bevormundet fühlen – und dass Hilfe, die als Umerziehung und Missionierung daherkommt, zum Scheitern verurteilt ist. Schließlich sollten auch die Medien ihre Hausaufgaben machen. Wo sind die Stimmen von Afghanen in unseren Feuilletons? Wo afghanische Gesprächspartner in den Talkshows der Illner, Maischberger und Will? Selbst der Bundestag hat jüngst bei einer öffentlichen Anhörung zum desolat verlaufenden Polizeiaufbau in Afghanistan keinen einheimischen Experten befragt. Was würden wir sagen, wenn unsere Nachbarn – Franzosen oder Polen – den 20. Jahrestag des Mauerfalls diskutieren und dazu keinen Deutschen einladen? Eigentlich ist damit die Agenda für die Konferenz von London Ende Januar vorgegeben. Wie erfolgreich man dort ist, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie ehrlich man in den Spiegel schaut.

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