Nur aus historischen, keinesfalls aus sachlichen Gründen wird das alljährliche Wettsingen um den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson immer noch Schlagerwettbewerb genannt. In diesem Jahr gewann Stefan Raab mit seinem »Wadde Hadde Dudde Da« die deutsche Vorausscheidung, und folglich wird Raab Deutschland international repräsentieren. Bei der deutschen Vorausscheidung, die am vergangenen Freitag in Bremen stattfand, war von elf antretenden Künstlern gerade mal ein einziger ein Vertreter des guten alten Schlagers, für den dieser Wettbewerb doch einmal geschaffen worden war.
Es ist scheinbar vorbei mit der großen Idee des deutschen Schlagers, wofür, mit ein wenig Pathos gesprochen, schließlich Roy Black, Renate Kern und zuletzt Rex Gildo ihr Leben ließen. Der einzige Künstler der diesjährigen Grand-Prix-Aspiranten, der sich in diese Reihe stellte, hieß Marcel, war 21 Jahre alt, stammte aus Köln, hatte einen nicht gerade hübsch zu nennenden schrägen Mund und zeigte sich im Vorstellungsvideo auf der Wohnzimmercouch seiner Eltern. Sein Lied hieß »Adios«, darin fragte er, ob man die »Stimme der Sehnsucht« hörte, was man deswegen nicht tat, weil sein Refrain kaum zum Zuhören taugte: »A - A - A - Adios, U - U - U - Mon Amour, A - A - A - Ti amo«. So nicht, Marcel!
Die anderen zehn Interpreten hatten mit Schlager nichts zu tun, sangen meist nicht oder nicht richtig deutsch und hießen Claudia Cane Mother Bone, Lotto King Karl und die Barmbeck Dreamboys fischering Roh, Kind of Blue, E-Rotic, Corinna May (mit dem Lied »I believe in God«) oder Fancy, der wie die hormonbehandelte Reinkarnation von Elvis und Rex Gildo aussah und so etwas vortrug: »We can move a mountain, we can touch the sky, we can make a difference, if we really try.« So auch nicht, Fancy!
Häme war angesagt, und Stefan Raab war es, der sie aussprach: »Es ist meine Pflicht, den Grand Prix wieder zurück zu seinen Wurzeln zu führen.« Was er vortrage, sei ein Protestsong gegen die Reglementänderung, die auch englischsprachige Songs erlaube. Raab hatte vor zwei Jahren als mit dem Pseudonym »Alf Igel« zeichnender Texter des Liedes »Piep, piep, piep, Guildo hat euch lieb« Guildo Horn zum Sieg bei der deutschen Vorausscheidung zum Grand Prix verholfen. »Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt«, heißt es bei Marx, und Guildo Horn, studierter Musikpädagoge, der seine Diplomarbeit zur »Abschaffung der Vernunft« geschrieben hatte, tat zumindest so, als singe er sie dem Schlagerbetrieb vor. In seiner Tradition traten in diesem Jahr auch Kombos wie Knorkator an, von denen im Vorfeld Gerüchte verbreitet wurden, sie beabsichtigten zur Illustration ihres Liedes »Ick wer zum Schwein« rohe Koteletts ins Publikum zu werfen. Das freilich blieb aus, stattdessen wurden die sich garderobig nett und stimmlich vielseitig präsentierenden sympathischen Köpenicker böse ausgebuht, wobei die Pfiffe gar nicht dem Umstand galten, dass die angekündigte üble Provokation ausblieb, sondern es waren die genau für diesen Fall eingeplanten Pfiffe. Die Bresche, damit Künstler wie Knorkator auftreten können, hatte vor zwei Jahren Guildo Horn geschlagen. Jetzt sorgte Knorkator in der Schurkenrolle dafür, dass einer wie Stefan Raab plötzlich als annehmbar erscheint: statt fliegender Koteletts bloß ein »gelernter Metzgersohn« (tageszeitung).
Zuletzt hatte Raab einen großen Erfolg mit einem Lied, das davon lebte, dass eine Frau aus Sachsen recht komisch das Wort »Maschendrahtzaun« aussprach. Davor hatte Raab zwei Männer präsentiert, die auf einem Geburtstagsvideo, gleichfalls in sächsischem Dialekt, »La Paloma« sangen. Und Jahre zuvor konnte Raab mit einem Lied, das im Refrain »Börti, Börti Vogts« hieß, reüssieren. Damit wurde er sogar die Nummer eins der ZDF-Jahres-Hitparade - und berühmt. Auch Guildo Horn trat in der ZDF-Hitparade auf, auch er wurde berühmt. Guildo Horn und Stefan Raab verschafften der Schlagerinstitution aus den Berliner Unionstudios einen radikalen Austausch der Zuschauerschichten - von den Über-60-jährigen zu den Unter-25-jährigen. So erging es auch dem Grand Prix. Die für Fernsehsender wichtigste Zielgruppe der Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren wurde für die Schlagersendung gewonnen, indem man einfach nicht mehr richtige Schlager, sondern Trash abnudelte.
In Berlin gibt es den auf Schlager spezialisierten privaten Rundfunksender Spreeradio. Der hat gute Zuhörerzahlen, muss aber stets aufs Neue feststellen, dass Rentner in der Regel eher nicht zwischen 14 und 49 Jahre alt sind. Die meisten seiner Hörer wollen Schlager hören, dem Sender aber wäre es lieber, die Quote ginge zurück, wenn dafür nur jüngere Hörer kämen - und mit ihnen die werbende Industrie, die mehr als bloß Treppenlifte feilzubieten hat. Spreeradio hat in seinem Programm das nicht ganz so originelle Spiel »Stark oder Quark«. Da können Anrufer entscheiden, ob der entsprechende Song auf Spreeradio zu hören sein wird oder nicht. Stefan Raab bekam für sein »Wadde Hadde Dudde Da« mit 93 Prozent »Quark« eine deutliche Abfuhr. Bei Knorkator versprachen die Macher freiwillig, deren Song nie und nimmer zu spielen. Das Problem von Spreeradio aber verschärft sich: Leute wie Stefan Raab und Guildo Horn wären das Vehikel, mit dem jüngere Hörer ins Programm des Schlager-Rentner-Kanals gezogen werden könnten, ohne sein Profil allzu sehr zu beschädigen, aber genau diese Raabs und Horns will die gegenwärtige und auch nicht so ganz zu verprellende Hörergemeinde nicht im Programm haben. Stefan Raab und Guildo Horn verhalten sich zum deutschen Schlager wie Angela Merkel zu Helmut Kohl. Der Ex-Kanzler hat sehr wohl noch seine Anhänger, die ihn wenn schon nicht auf Spreeradio, so doch auf Hamburger Industrie- und Handelskammertagen beklatschen. Aber die Öffentlichkeit ist so strukturiert, dass sich die Kohl-Fans nicht offen zeigen können. Die CDU aber soll diese Gruppe nicht verprellen, darf sich aber umgekehrt keinen Deut um sie scheren. Oder versuchen wir es mit diesem Vergleich: Stefan Raab und Guildo Horn verhalten sich zum deutschen Schlager wie Vodafone zu Mannesmann. Irgendwo gäbe es sicher für den deutschen Konzern noch eine Nachfrage, aber mit den eigenen Waffen wurde eine feindliche Übernahme inszeniert.
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