Ästhetik der WM (2): Haarpracht, wenig subversiv

Sportplatz Wie sitzt man in den Stadien? Sehen die Fußballer eigentlich gut aus? Passend frisiert? Was machen Waden, Strümpfe, Hosen? Gilt Knigge bei den ...

Wie sitzt man in den Stadien? Sehen die Fußballer eigentlich gut aus? Passend frisiert? Was machen Waden, Strümpfe, Hosen? Gilt Knigge bei den Trainern und gibt es noch fußballerisches Liedgut? Der Freitag-Sportplatz kommentiert die Weltmeisterschaft 2002 als ein ästhetisches Phänomen. Denn eines ist klar: Fußball ist Geschmackssache.



Können Sie sich die Sex Pistols mit gepflegtem Kurzhaarschnitt vorstellen? Sid Vicious mit gestutztem Oberlippenbart? Nein? Aber Sie haben Christian Ziege gesehen? Der deutsche Mittelfeldspieler trägt etwas, von dem zu lesen war, es sei ein Irokesenschnitt. Es ist ein behaarter Streifen auf dem Schädel, den er sich, als er ihn zum ersten Mal der Öffentlichkeit zeigte, sogar schwarz-rot-gold gefärbt hatte. Was macht Ziege da? Betont er das Hässliche? Will er dem Symbol der Deutschlandfahne einen neuen, einen negierenden Sinn geben? So wie Punks aus Hakenkreuzen Protestsymbole machten, sie quasi decodierten und daraus Popinsignien erwuchsen? Nein, denn Christian Ziege ist deutscher Fußballnationalspieler, der auch die Hymne mitsingt. Das hört sich zwar an, als intoniere ein aus der Gruft entstiegener Sid Vicious "God save the Queen", aber es klingt nur so. Von Subversion kein Ton.
Haben Sie Carsten Janckers Oberkörper gesehen? Als der deutsche Stürmer endlich auch mal ein Tor erzielt hatte, zog er sein Trikot aus, und darunter erschien nicht, wie bei den meisten seiner Kollegen ein T-Shirt, auf dem Gott, der Lebensgefährtin, dem Baby oder dem Sponsor gedankt wird, sondern sein nackter, kräftiger, sehniger und auch sonst nicht so ganz appetitlicher aber haarloser Oberkörper. Hinzu kommt die Glatze, die Carsten Jancker trägt, obwohl sein Arbeitgeber, der Bayern-München-Manager Uli Hoeneß, ihn schon mal gebeten hatte, sich doch endlich mal die Haare wachsen zu lassen, damit die Fans keinen Anlass mehr hätten, ihn "unseren Führer" zu rufen, was sie wirklich tun und was Carsten Jancker zumindest insoweit nicht stört, als dass er nichts dagegen unternimmt. Außer seiner Glatze und seinem freien Oberkörper bot Carsten Jancker noch breit ausgebreitete Arme. Es war etwas von einem Imperator in seiner Geste, und niemand schimpfe über angebliche Plattitüden ausländischer Sportzeitungen, die im Anblick von Carsten Jancker und Christian Ziege über die deutsche Nationalmannschaft etwas mit "Tanks" und "Teutonen" titelten. Auch "Wehrmacht" und "Panzer" war zu lesen. An Punk, Subversion und Decodierung denkt dabei freilich keiner.
Das verwundert nicht so sehr, so lange es um die deutsche Nationalmannschaft geht. Es verwundert aber sehr wohl, schaut man sich die über Haarpracht und andere körperliche Insignien vermittelte Symbolik bei der Fußball-WM an. Haben Sie El-Hadji Diouf gesehen? Wahrscheinlich, nur gemerkt haben Sie sich den Namen des senegalesischen Stürmers nicht. Das war der Herr, der im Eröffnungsspiel gegen Frankreich, das Senegal gewann, mit blond gefärbten Haaren auffiel. Kurz geschnitten, fehlte ihnen auch jede subversive Botschaft. Auch die langen Rastalocken seines Kollegen Ferdinand Coly senden so etwas nicht aus. Die beiden Senegalesen Diouf und Coly, die beide ihr Geld in Frankreich beim RC Lens verdienen, sehen verdammt europäisch aus, und doch waren sie diejenigen ihrer Mannschaft, die optisch noch am ehesten auffielen.
Die Globalisierung verändert, sie produziert einheitliche, uniforme Körper. Wo sollte sich dies deutlicher zeigen als bei einem Weltereignis der Körperbeherrschung? Kurze Hosen, durchtrainierte Körper, bunte Stutzen waren bei der WM ja schon immer zu besichtigen. Die mittlerweile unterschiedlich farbigen Schuhe werden von den Ausrüsterfirmen gestellt und vorgeschrieben, und dass Ärmel an den Trikots vorgeschrieben sind, musste der Fußballweltverband den Kickern von Kamerun erklären. Die wollten sich nämlich wie Strandgigolos aufführen und mit ärmellosen T-Shirts antreten. Welch Entweihung des Weltturniers hätte gedroht! Das Einzige, wo Fußballern noch Individualität im Outfit möglich ist, ist der Haarschnitt. Für kurz oder lang, gefärbt oder natur ist der Kicker selbst verantwortlich. Doch genau diese vermeintlich freie Entscheidung ist es, die die Vereinheitlichung der Sportlerkörper durch die Globalisierung am deutlichsten macht. Da ist nämlich nichts besonderes mehr zu besichtigen. Vorbei sind die vorne kurzen und hinten langen (vo-ku-hi-la) Fußballerfrisuren, wie sie bis vor nicht langer Zeit von osteuropäischen Kickern noch mit Stolz und Trotz getragen wurden. Der moderne Fußballprofi trägt halblange Haare oder gepflegt kurzgeschnittene, die scheitelfrei sind, oder er trägt eine Glatze, die bei fast allen - Ausnahme: Carsten Jancker - so aussieht, dass man sie auch in einen Werbespot schicken könnte. Für letzteres taugt Christian Zieges misslungener Irokesenschnitt nicht, aber dass diese Frisur auch nicht subversiv ist, fällt unangenehm ins Auge. Wofür Carsten Janckers Gestik steht, entnehmen Sie bitte der ausländischen Fachpresse. Richtig subversiv sind heutzutage nur noch Vokuhila-Frisuren. Ich kann mir Sid Vicous mit Nackenspoiler vorstellen.

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