Im Boxring stehen drei Männer. Zwei Kämpfer und ein Ringrichter, der neutral entscheiden soll, so funktioniert der Sport. Um drei Männer geht es auch in Matthias Eckoldts Roman Letzte Tage. Sie heißen Toni, Rico und Alex, und dass daneben noch andere Menschen auf- und wieder abtreten, bringt das Genre mit sich. Es ist ein Boxerroman, der im Jahr 1995 spielt. Also etwa zu der Zeit, als Boxen in Deutschland wieder populär wurde, als RTL damit hohe Einschaltquoten erzielte und als es, etwa entlang der Kämpfe von Graciano Rocchigiani und Henry Maske, zum symbolischen Austragungsort deutsch-deutscher Probleme wurde.
„Ich will keine Kunst machen, verdammt!“ ruft Alex einmal aus und fügt hinzu: „Ich werde etwas Ehrliches machen. Boxen! Mann gegen Mann!“
Alex ist Boxer, Rico auch, allerdings zwei Gewichtsklassen entfernt, und Toni ist ihr gemeinsamer Trainer. Eines Tages will ihr Manager, Bornemeyer, dass Rico ins Alex’ Gewichtsklasse aufsteigt, um mit ihm um dessen Europameistertitel zu kämpfen. Toni will das nicht, aber er kann es nicht verhindern. Er muss sich zwischen den Boxern entscheiden.
Bornemeyer beherrscht mit seinem Geld das sportliche Geschehen total. Aber der Manager selbst ist dem Privatfernsehen ausgeliefert. Die Beziehung zu Karlo, dem Fernsehredakteur, ist die einer billigen Abhängigkeit. Karlo schleppt Bornemeyer immer ins Sushi-Restaurant, lässt Bornemeyer, der von Sushi kotzen muss, noch zahlen. Eine Demütigung der einfachen Art.
Toni ist ein trockener Alkoholiker, dem nur das Boxen, also der geregelte, beinahe wissenschaftlich geleitete Trainingsbetrieb die Stabilität gibt, nicht mehr zu saufen. Er hält es im Roman nicht durch.
Andere Figuren des Romans, etwa Tonis Frau Irina oder sein alter Boxkumpan Paul, sind nur Staffage, und schon der Manager Bornemeyer erscheint nur als ökonomischer Strippenzieher, als derjenige, der zwar letztinstanzlich eine große Tragödie verursacht, aber er ist doch, wie die ökonomischen Strukturen, nicht selbst moralisch schuld.
Im Grunde reduziert sich der Roman auf die Beziehung zwischen den drei Männern, die selbst keinen einzigen Konflikt offen austragen. Was sie sich zu sagen hätten, regeln sie im Ring. Und was im Ring passiert, ist nichts, so scheint es, was mit sozialen Prozessen, mit Vergesellschaftung oder dem Abbild von Realität zu tun hat.
Werbevertrag für Mundwasser
Das Milieu, in dem es so laborhaft zugeht, ist die Post-DDR. Trainer Toni war zu DDR-Zeiten Olympiateilnehmer und wurde nach der Wende Profitrainer. Talent Rico stammt aus Brandenburg und will nach oben. Und Europameister Alex wird zwar von Matthias Eckoldt sehr boxeruntypisch in eine Villa im Berliner Grunewald gesteckt, aber er schwätzt ganz Henry-Maske-mäßig gestanzte Sätze für die Fans, und zu allem Überdruss hat er sogar, wie Maske einst, einen Werbevertrag für ein Mundwasser.
Eckoldt schildert das Geschehen im Ring, an den Geräten oder beim Sparring mit großer Kenntnis. Die Schlagvarianten und die Trainingsübungen werden genau beschrieben, und dank der detaillierten Schilderung ahnt man, dass eine Schlagkombination, ein Stellen in der Ecke oder ein Wirkungstreffer für die Akteure eine besondere, eine tiefere Bedeutung haben, als sie im gängigen Sportjournalismus ersichtlich ist. Doch falls Eckoldts detaillierte Schilderung erfolgt, um das Boxen seines gesellschaftlichen Bezugs zu befreien (und einen individualpsychologischen Ansatz stärker zu betonen), so gelingt ihm das nicht. „Ein K.o. ist nicht so schlimm, wie er aussieht“, erfährt der Leser einmal aus Tonis Mund – ein versteckter Hinweis, dass man sich hier nicht im harten Profimilieu etwa der USA befindet. Dort bedeutet ein K.o. nämlich, dass der Traum aus ist, die Karriere vorbei, die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg perdu.
Davon erfährt man in Letzte Tage kaum etwas. Das postsozialistische Milieu, in dem die drei Helden dem Boxsport nachgehen, ist familiär; Rico wohnt bei Toni, dessen Frau kocht für alle, und auch für Alex empfindet Toni väterliche Gefühle. Alles, was das Boxen zu einem sozialen Phänomen außerhalb der Familie und außerhalb der Urinstinkte eines Mannes machen könnte, findet hier nicht statt. „Wut war nicht das Wichtigste“, lässt Eckoldt seinen Trainer Toni im inneren Monolog sagen. „Die zählte etwas bei den Amis, wo es für viele Schwarze einfach nur hieß: Box oder stirb. Aber nicht in Deutschland.“ An anderer Stelle heißt es über US-Boxer: „Für die ist Boxen kein Sport, sondern eine verdammte Lebensform.“ Die im Roman beschriebene Realität wird dieses Weichzeichnen hiesiger sozialer Verhältnisse – und damit auch: Dämonisierung amerikanischer Verhältnisse – einholen.
Damit ist zugleich die Stärke und die Schwäche von Letzte Tage umrissen. Eckoldts Versuch, sich dem Boxen – und nur dem Boxen – als literarischen Stoff zu nähern, gelingt gut, gründlich und stellenweise brillant. Aber gerade weil die Beschreibung so genau ist, zeigt sie ungewollt auch die Grenzen eines solchen Vorgehens auf. Den Komponisten Hanns Eisler paraphrasierend könnte man sagen: Wer nur etwas von Boxen versteht, versteht auch davon nichts.
Letzte TageMatthias Eckoldt, Dittrich, Berlin 2010, 248 S., 19,80
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