Der Sport und sein Platz

Sportplatz Kolumne

"Ich hasse Sport. Verdummend". Der Bannfluch findet sich in den Notizbüchern von Peter Weiss. Der Schriftsteller legte Wert darauf, dass dies nicht seine private Marotte sei, er wollte für viele sprechen: "Der Matsch des Leichtverdaulichen, Ablenkenden, dieser ganze Dunst von sogenannter Unterhaltung, von Zeitvertreib, Sport, der war uns über!" Sogar die Frage, warum es ihm über war, beantwortete Weiss: Sport sei "ablenkend vom politischen Kampf".

Weiss stand tatsächlich nicht allein, zumindest nicht Ende der Sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Deutschland. Auch Theodor W. Adorno fand es schlimm, dass eine Fußball-WM "die gesamte Bevölkerung aus allen Fenstern durch die dünnen Wände der Neubauten hindurch zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist", ja, der Philosoph befand auch, dass Fußball "die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität zur Volksgemeinschaft" zusammenschweiße.

1970 erschien die psychologische Studie "Fußballsport als Ideologie" von Gerhard Vinnai, worin er sich beklagte: "Dass die Massen mehr denn je vom Sport besessen sind, nötigt die ‚kritische´ Intelligenz kaum zur Anstrengung des Begreifens." Der sportkritische Jungwissenschaftler war empört: "Entweder geht die ‚Aufklärung´ selbst zum Fußballplatz und ist an die Sportschau des Fernsehens fixiert oder sie diskriminiert das Bemühen um die ernsthafte Analyse des Sports." Ergebnis der ernsthaften Analyse: "Die Tore auf dem Fußballfeld sind die Eigentore der Beherrschten!"

Puh.

Sage keiner, das seien bloß die Meinungen versprengter Einzelner. Noch 1983, als die Grünen erstmals in den Bundestag einzogen, verkündete ihr damaliger Abgeordneter Otto Schily froh, er sei stolz darauf, einer Fraktion anzugehören, die keinen sportpolitischen Sprecher habe. Später wechselte Schily nicht nur seine Partei, sondern auch seine Meinung. Fortan war er stolz darauf, "Deutschlands stärkster Sportminister" zu sein.

Dass in den besagten Jahrzehnten der Sport niemanden interessiert hätte, kann man nicht behaupten. Die Fußballbundesliga boomte, andere Sportarten auch. Franz Beckenbauer wurde Weltstar wie auch Muhammad Ali, Björn Borg, Eddy Merckx, Pelé oder Johan Cruyff. Vielmehr mehr kam das, was der Schriftsteller Robert Musil in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" voraussagte, in den sechziger- und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Entfaltung: dass nämlich "Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen" schien.

Auch kann man nicht sagen, dass sich die Linke nicht für Popularkultur interessiert hätte. Vielmehr wurde gerade durch die Neue Linke das bislang als trivial Verschriene, egal ob Comic oder Porno, zum Kulturgut erhoben.

Bloß wenn´s um den Sport ging, glaubte man Winston Churchill , der auf die Frage, wie er so alt werden konnte, geantwortet hatte: "No sports, whisky only". Diese Sicht auf den Sport hat sich in den letzten Jahren erstaunlich gewandelt. Betrachtet man allein die Fülle der feuilletonistischen und sozialwissenschaftlichen Literatur, die 2006 in Deutschland zur Fußballweltmeisterschaft erschien und sich mit kulturellen, religiösen, sozialen, genderspezifischen, historischen, ökonomischen und sonstigen Aspekten des Fußballsports befasst, bleibt nur noch Staunen, wie der Sport in Deutschland je mit so viel Verachtung und Ignoranz bedacht werden konnte. Musil hatte noch geglaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis man der Anregung eines Fußballvereins Folge leiste, "seinem Rechtsaußen einen Professorentitel zu verleihen". Was vor wenigen Jahren noch - zumindest in Deutschland - als Schnapsidee verworfen worden wäre, wäre heute diskutabel.

1993 erschien im Freitag erstmals die Kolumne "Sportplatz". Damals war das - lässt man den Sportteil des Spiegel beiseite - der erste regelmäßige Sportteil einer politischen Wochenzeitung in Deutschland. Über 600 sportkritische Kolumnen sind seither erschienen. Der "Sportplatz" hat den Aufstieg des Themas Sport zu einem ernst zunehmenden kulturellen Phänomen begleitet. Vielleicht ist es nicht zu viel behauptet, dass er ihn befördert hätte.

Jetzt, da sich alle anderen mit einem Fußballfeuilleton schmücken und sich dabei so kritisch, kreativ und frech vorkommen, mag der Zeitpunkt gekommen sein, abermals voran zu schreiten und den "Sportplatz" im Hegelschen Dreifachsinn aufzuheben. Erstens: aufheben als auflösen verstanden, so wie man ein Gesetz aufhebt. Zweitens: aufheben im Sinne von bewahren, so wie man etwas in einer Schublade aufbewahrt. Drittens: aufheben im Sinne von auf-eine höhere-Stufe-heben!

"Ich bin für den Sport", heißt es bei Brecht, "weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist."


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