Der Untertitel verheißt viel und viel Gutes: Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht. Es geht um die Tagesschau, die Institution des seriösen Nachrichtenjournalismus in diesem Land. Walter van Rossum hat sie sich eine Woche lang angeschaut, hat die Redakteure in Hamburg bei der Arbeit beobachtet und sich auch mit vielen unterhalten.
Was sich van Rossum vorgenommen hat, ist zufällig ausgewählt: die Tagesschau und die Tagesthemen des 6. Dezember 2006. Topmeldung war damals der Irakbericht der so genannten Baker-Kommission in den USA, es ging unter anderem um die von Wolfgang Schäuble vorgelegte Bilanz der Fußball-WM, um einen DGB-Vorschlag zum Arbeitslosengeld I und eine neue Strategie der Telekom. Eine, wie man im Geschäft sagt, normale Nachrichtenlage also.
Van Rossum druckt den Text der Meldungen ab und kritisiert dann. Bei der Telekommeldung beispielsweise bemängelt er, dass eine harmlose Personalie aufgemotzt wurde, um von einer im Beitrag nirgends belegten neuen Strategie des Konzerns zu sprechen. Allgemein weist er nach, dass Wirtschaft "in der Tagesschau konsequent als Betriebswirtschaft dargestellt wird". Auch wenn die Tagesschau den DGB-Vorschlag zum ALG I präsentiert, kann er nachweisen, dass dort alles wie ein Parteienstreit erscheint. Van Rossum vermutet, das geschehe bewusst, aber diesen Nachweis bleibt er schuldig. Dem Beitrag über Schäubles Bilanz der Fußball-WM wirft van Rossum vor, "peinliche Selbstinszenierungen der Bundesregierung eins zu eins dem Zuschauer zu übermitteln". Der Autor kritisiert, dass die Bilanz der WM nicht so positiv sei, wie Schäuble sie darstellt: Der rede nur von Gewinnen, wo es doch hohe Kosten gebe; die Gewinne gingen nur an Adidas, obwohl diese Firma doch "bekanntlich fast keines ihrer Produkte in Deutschland fertigen lässt"; und Schäuble spreche von einer "Werbeaktion gegen Ausländerfeindlichkeit", dabei habe die WM für mehr Nationalismus gesorgt.
Was van Rossum kritisiert, ist nicht falsch, und was er erwähnt, gehört, journalistisch gesprochen, in einen Hintergrundbericht zur WM-Bilanz. Bleibt man aber bei den journalistischen Standards als Kriterium, hat er Unrecht: Im Nachrichtenjournalismus hat die Meldung Vorrang, und die lautet an jenem Abend, dass der deutsche Innenminister eine positive WM-Bilanz zieht. Van Rossum aber hat den Drang, nicht Schäubles, sondern seine Sicht der Dinge dargestellt zu wissen.
Ähnlich ist es bei seiner Kritik an der Präsentation des Baker-Berichts durch die Tagesschau. Der Autor behauptet, hier zeige sich, dass die Tagesschau "allabendlich ihre Zuschauer auf die allerselbstverständlichste Art zu Mitwissern eines ungeheuren Verbrechens macht, nämlich eines barbarischen und durch nichts zu rechtfertigenden und relativierenden Angriffskrieges".
Ob van Rossums Wertung des Irakkriegs als "ungeheuer", "barbarisch" und so weiter richtig, falsch oder zumindest in der Wortwahl überzogen ist, muss für Nachrichtenjournalismus irrelevant sein. Worüber die Tagesschau an dem von van Rossum inkriminierten Abend berichtete, war nicht der Krieg, sondern der Bericht der Baker-Kommission an den US-Präsidenten, wie sich die USA im Irak weiter verhalten sollte. Was die Tagesschau nicht tat, war, eine Wertung abzugeben - weder des Kriegs, noch des Berichts. Was die Tagesschau auch nicht tat (weil weder sie, noch jemand anderes dies kann), war, sich dem Sachverhalt objektiv zunähern. Daraus eine Kritik zu basteln, ist, freundlich formuliert, nicht sehr gegenstandsbezogen.
Gewiss, man ahnt schon die Einwände: Dass Nachrichtenjournalismus durch seine pseudo-objektive Attitüde die Verhältnisse reproduziere und stabilisiere. Schließlich sei es doch so, wie man sagt - "barbarisch", "ungeheuer". Beide Einwände tragen nicht: Erst wenn etwas, sagen wir: objektiv barbarisch ist, gehört dies in die Meldung; ist es noch ein gut oder schlecht begründeter politischer Kampfbegriff, nicht. Vor die kritische Bewertung haben die Götter immer noch das Verstehen gesetzt, und wer von Beginn an mit möglichst deftigen Wertungen um sich schlägt, setzt sich dem Verdacht aus, die Realität gar nicht begreifen zu wollen.
Ein Beispiel: Die damalige Tagesthemen-Moderatorin Anne Will wies van Rossum im Interview darauf hin, dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad mehrmals erklärt habe, Israel vernichten zu wollen. Dieses Interview fasst van Rossum in einem Satz zusammen: "Mit anderen Worten: Anne Will vertritt exakt die Linie der Bush-Administration." Welche Filme auch immer in Walter van Rossums Kopf ablaufen, wenn er Kritik an Ahmadinedschad hört: Das hat Frau Will definitiv nicht gesagt.
Noch stärker leidet Rossums Medienkritik daran, dass sie fast ausschließlich eine Textkritik ist. Allenfalls, dass die Bildsprache langweilig ist, fällt ihm ein, aber Bildern, die er irgendwo gesehen hat, vertraut er völlig. Ein Beispiel: "Und muss man eigentlich studiert haben", fragt er rhetorisch, "um zu erkennen, dass ein beharrlich ´Zaun´ genanntes Gebilde in Wahrheit eine acht Meter hohe Betonmauer ist, hinter der Israel Palästinenser gefangen hält?" Die Mauer, die er meint, macht circa drei Prozent der Sperranlage aus; der Rest ist tatsächlich ein Zaun. Den kann van Rossum kritisieren und verdammen, soviel er mag. Wenn aber die Tagesschau anfinge, ein Gebilde, das zu 97 Prozent ein Zaun ist, als Mauer zu bezeichnen, würde sie die Realität verzerren.
Interessant ist, dass die Tagesschau-Macher in ihrem täglichen Blog auf van Rossum reagieren. "Die Chance: Leider vertan", bilanziert dort Chefredakteur Kai Gniffke das Buch. "Wie spannend könnte es sein, sich fundiert mit unserem Metier auseinander zu setzen und zu fragen, welches Weltbild wir da tatsächlich vermitteln. Wie gehen wir mit der Großmacht USA um und wie behandeln wir die vermeintlichen Schurken der Weltpolitik?" Ob sich die Tagesschau-Macher wirklich dieser Kritik stellten, wäre zu testen. Van Rossum hat es in weiten Teilen seines Buches nicht getan. Damit erweist er den starken Passagen seines Buches einen schlechten Dienst. Stark ist Rossum da, wo er nachweist, dass die Tagesschau beim Versuch, Zusammenhänge darzustellen, ideologisch wird - etwa in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Schwach ist er, wenn er mit ideologischen Argumenten die Darstellung von Zusammenhängen einfordert.
Walter von RossumDie Tagesshow. Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht. Kiepenheuer Witsch, Köln 2007, 199 S., 8,95 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.