Grünes Laufen

SPORTPLATZ Mittlerweile gibt es keinen Wahlkampf der Grünen mehr, bei dem der jeweilige Spitzenkandidat nicht joggen muss. Ihr prominentester Politiker, ...

Mittlerweile gibt es keinen Wahlkampf der Grünen mehr, bei dem der jeweilige Spitzenkandidat nicht joggen muss. Ihr prominentester Politiker, Außenminister Joschka Fischer, läuft selbst und hat ein Buch darüber geschrieben. Seither hat die grüne Prominenz zu rennen, zuletzt in Schleswig-Holstein.

Fischers Buch heißt Mein langer Lauf zu mir selbst, und schon der Titel drückt aus, dass das Laufen bei der Sinnsuche helfen soll, individuell und politisch. »Der Jogger ist ein tragischer Held«, schreibt der Psychologe Johannes Dirschauer. »Er wartet nicht mehr auf Godot, sondern versucht ihn zu erlaufen.«

Das Laufen stellt in der Tat etwas Besonderes dar: Selbstbewusst und selbstdiszipliniert wird Natur erlebt, wird der eigene Leib modelliert und wird ein asketisches Körperbild geschaffen.

Dies macht der Jogger zunächst nur mit und für sich. Gleichzeitig aber sendet er die Botschaft nach außen, dass sein Tun gut und nachahmenswert ist. Diese Botschaft hat zwar nicht unbedingt das sportliche Laufen zur Voraussetzung, ist aber sehr wohl auf körperliche Bewegung beschränkt. Beim Radfahren, beim Bergsteigen oder beim Flanieren trifft die Beobachtung zu. Der modellierte Körper, der erst erfahrbar wird durch Bewegung, wird Träger des Sinns.

In Walter Benjamins Passagenwerk heißt es: »Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehen gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Bistros, der Läden, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke.«

Dieser Magnetismus, den Benjamin für den Flaneur beschreibt, ist für den Läufer der nächste Baum oder die nächste Kuppe. Im politischen Leben ist es der nächste Parteitag, die nächste Wahl oder der nächste Krieg. Der Magnetismus ist eine Situation, die der Akteur beherrscht, die scheinbar Sinn stiftet, indem sie die Frage nach ihm nicht mehr zulässt. Beim Flanieren funktioniert das so: Bis zur nächsten Ecke gehe ich auf sicherem Trottoir, dort überquere ich, wie ich es gelernt habe, die Straße und dann habe ich ein neues Ziel. Beim Laufen funktioniert es ähnlich, nur noch intensiver, weil zur Sicherheit auch die konditionelle Fähigkeit tritt: den nächsten Baum erreiche ich auch noch.

Am komplexesten funktioniert dieser Ablauf freilich im politischen Leben. Den arg rebellischen Ansprüchen, die zu Beginn des politischen Projekts der Grünen formuliert wurden, folgte die Anpassung an die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und letztlich ihre Aufgabe.

Die Sinnsuche, die sich im Laufen nicht nur symbolisiert, sondern tatsächlich in ihm stattfindet, ist das Ergebnis der Konfrontation mit ursprünglichen Zielen. Die Welt wurde nicht verändert, sie war, wie es damals versucht wurde, nicht zu verändern und sie sähe wohl, hätte man sie doch so wie damals gewollt, verändert, eher nicht gut aus.

Dieser Befund geht ans Selbstbewusstsein und reizt zum Weglaufen, wozu sich als symbolischer Akt das Joggen anbietet.

Der Befund reizt auch zur Rebellion, und der Psychologe Dirschauer erkennt im Laufen auch ein Protestmoment gegen das Einverleibtwerden in die maschinelle Produktion, in das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Abläufe. Aber die gewählte Form des Protests, das Laufen, wird zur Falle: »Wer seine Laufstrecke hat, auf der er archaischer Leiblichkeit frönen kann wird um so unerbittlicher bei der Bedienung der Maschine funktionieren.«

Die Grünen sind keine Partei, die man mit sportlichen Inhalten verbindet. Genau sie haben aber laufende Politiker für Fernsehspots entdeckt. »Es gab ja durchaus die eine oder andere Verdächtigung, die mir unterstellte, ich würde den Marathon nur als Werbegag laufen«, empört sich Joschka Fischer in seinem Buch.

Laufen ist Symbol und mehr. Als Symbol zeigt es die Anpassung durch Rebellion: wer das politische Terrain beim Bekämpfen kennengelernt hat, dem sind Umwege und Unterholz vertraut und der fühlt sich diesem Terrain viel stärker verbunden als der, der es bloß betreten hat. Und weil das politische Terrain durch reale Körper betreten wird, ist das Laufen auch die mehr als nur symbolische politische Praxis.

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