Der Schlager, sagen die, die sich für seine Kritiker halten, besingt nur die heile Welt. Das ist ja richtig, und darin ist der Schlager ja auch der Religion nicht unähnlich. Nur ist diese Art der Kritik eine unoriginelle, denn ihr mag niemand widersprechen. Um etwas zu kritisieren, muss man es bekanntlich erst mal ernst nehmen, und am vergangenen Freitag gewann im Jammertal zu Hannover die Sängerin Michelle die deutsche Vorausscheidung zum jährlichen europäischen Schlager-Grand-Prix. Ihr Siegertitel lautet Wer Liebe lebt und verheißt denen, die so oder dies leben Unsterblichkeit. Dieses, zumal als leicht französelnd und mit vollem Brustkorb intonierte Ballade dargeboten, als heile Welt zu verstehen, ist nicht falsch und wahrscheinlich würden weder die Sängerin noch die Plattenfirma widersprechen.
Michelle heißt in Wirklichkeit Tanja Hewer und stammt aus Villingen-Schwenningen, aber wer will das wissen? Als sie mit dem Lied Und heut nacht will ich tanzen ihre ersten Erfolge hatte, wurde sie dem Publikum als 18-jähriger Teenager vorgestellt, als Geburtsjahr galt 1975. Auf ihrer ersten CD, sie heißt Erste Sehnsucht, wurde Michelle als verträumtes Mädchen präsentiert, vor einer Blümchentapete hockend. Der Erfolg hielt an, es kamen Hits wie Kopfüber in die Nacht und Im Auge des Orkans (mit dem sie 1997 bei der deutschen Grand-Prix-Vorausscheidung Dritte wurde), und die Künstlerin ging eine durch Ehe besiegelte Beziehung zu einem Sänger der Gruppe Wind ein, die gemeinhin zur zweiten Liga des Schlagers gezählt wird, wenngleich sie 1985 den nationalen Grand Prix gewinnen konnte. Michelle bekam ein Baby, die Plattenfirma promotete sie daraufhin nicht mehr als Teenager, sondern als selbstbewusste junge Frau. Prompt korrigierte man auch ihr Geburtsjahr nach oben: 1972. Die Geburt der Tochter Celine wurde im Schlager Kleine Prinzessin gefeiert, und dem schnellen Scheitern der Ehe galt das Lied Und wir wollten doch mal fliegen. Gerade letzteres war sehr erfolgreich. Bald darauf drückte sich der berufliche Aufstieg der Künstlerin auch im neuen Liebesleben aus: Sie war plötzlich liiert mit Matthias Reim, dessen Verdammt, ich lieb' dich in den Neunzigern der Megahit des rockiger gewordenen deutschen Schlagers war. Das war schon eher erste Liga.
Michelle ging als neues Karriereziel den Grand Prix 2001 an, nachdem sie schon die Deutschen Schlagerfestspiele 1997, den Echo 1999 sowie etliche Hitparaden und Schlagerparaden gewonnen hatte. Größerer Erfolg bedarf erhöhter Authentizität, also tingelte Michelle durch die Talkshows. Sie trat bei Beckmann auf, um über ihre schwierige Kindheit als Tochter geschiedener Eltern zu berichten. Kurze Zeit später war sie bei Boulevard Bio, um zu erzählen, wie schwer ihre Jugend als zu früh erwachsen Gewordene war. Gleichzeitig betonte sie immer, wie gut sie es jetzt getroffen habe: Mit ihrer Tochter Celine aus ihrer Ehe und ihrer Tochter Marie-Louise, die sie zusammen mit Matthias Reim hat, bildeten sie jetzt zu viert eine ganz tolle Familie. Kurz später, wenige Wochen vor der Grand-Prix-Ausscheidung, verbreitete sich die Meldung über die Trennung von Matthias Reim. Plötzlich erfuhr man, dass Reim nie mit ihrer Tochter Celine gespielt habe, dass er den Kindern nichts zu Weihnachten geschenkt habe und überhaupt nie da gewesen sei, wenn er mal gebraucht wurde.
Zur deutschen Grand-Prix-Ausscheidung trat die nur 1,56-Meter große Sängerin also in neuer Rolle an: als vom Leben gebeutelte, dennoch stets kämpferische junge Frau, die dabei doch auch eine treu sorgende Mutter ist. Sorgerechtsstreitereien mit Albert hatte es scheint's nie gegeben, und Fragen, was die anstehende Tournee für ihre Kinder bedeute, wurden mit dem Hinweis auf eine gute Kinderfrau beantwortet, mit der sich Michelle sogar duzt. Die neue Rolle für Michelle inklusive der die Glaubwürdigkeit erhöhenden biografischen Bereinigungen bedeuteten die perfekte Schlagerinszenierung für jenen Abend in Hannover. Und prompt gelang Michelle der bislang größte Erfolg: den Zuspruch der Mehrheit der in einer von über zwölf Millionen TV-Zuschauern verfolgten Sendung, die Wahl zur Repräsentantin Deutschlands in Europa.
Michelle wurde damit in Anbetracht der Konkurrenz von Rudolph Moshammer, des Big-Brother-Stars Zlatko Trpkowski und im Vergleich zu den Vorjahressiegern Guildo Horn und Stefan Raab bestätigt, eine richtig seriöse Erscheinung zu sein. Sie hat nicht nur diesen Wettbewerb gewonnen, sondern sie gilt jetzt als die dominierende Schlagersängerin dieses Landes der vergangenen und künftigen Jahre. Ihre Dauerkonkurrentin Nicole, die seit ihrem Grand-Prix-Erfolg 1982, also seit über 18 Jahren, in dieser Rolle war, hat sie nun geschlagen.
Die Inszenierung von Seriösität im Schlager, die Michelle so erfolgreich betrieb, bedeutet nicht viel anderes als eine solche Inszenierung in der Politik oder in der Kirche: Es muss nicht alles richtig sein, was da behauptet wird, aber es muss in einer guten Show dargeboten werden. Michelle, die in selbstentwickelten Kleidern mit tiefem Ausschnitt und weitausholender Armbewegung ihre Auftritte inszeniert, glaubt man ihre Rolle, auch wenn man ahnt oder weiß, dass sie vor allem von der Plattenfirma entwickelt wurde. Michelle erweist sich in diesem Sinne als professioneller als Guildo Horn oder Stefan Raab, deren Glaubwürdigkeit darin bestand, dass sie bei ihren Auftritten immer eine ironische Brechung für sich reklamierten. Sie inszenierten sich als gelebten Kitsch und signalisierten, dass sie das alles nicht ernstnehmen. Michelle aber signalisiert, dass sie es ernst nimmt. Sie will gelebter Kitsch sein.
Der Schlager ist, so lässt sich mit Marx aus seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie sagen, "der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt". Diesen Seufzer stößt Michelle glaubwürdiger aus, das "Gemüt einer herzlosen Welt" wird von ihr gegeben. Es ist ein ähnlicher Unterschied wie der zwischen einem Hochamt im Kölner Dom und der Jugend-Beat-Messe eines Kaplans, der Jeans trägt. Oder wie der zwischen Bachs Matthäus-Passion und dem Danke für jeden neuen Morgen auf Gitarre, bzw. zwischen Luthers Bibel-Übersetzung und Eugen Drewermanns Werken. Dies ist der Unterschied zwischen Michelle und Guildo Horn.
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