Wenn man für Liebe bezahlen muss", sang Nino de Angelo 1983, "dann sind wir jenseits von Eden". Doch nicht einmal Bahn-Chef Hartmut Mehdorn ist es gelungen, uns aus dem Dienstleistungsparadies namens "Reisecenter" zu vertreiben. Nicht mit den umstrittenen Bonus-Zahlungen, nicht mit den Fahrplaneinschränkungen wegen ICE-Überprüfung, noch nicht einmal mit seinem gescheiterten "Bedienzuschlag"-Coup. Stattdessen volle Züge und noch vollere Bahnsteige. Dabei verärgert die Bahn selbst ihre treuen Kunden. Publikationen wie das Bahnhasser-Buch finden Zuspruch, Blogs sammeln Frust, Fahrgastinitiativen melden sich zu Wort.
Für Unruhe sorgt nicht, dass die Bahn Geld verdienen will, schließlich ist sie ein auf den Markt geworfener Staatskonzern, den es an die Börse drängt und von dem Einnahmen erwartet werden. Es ist vielmehr die Art, wie die Bahn ihren Kunden gegenübertritt, die die Fahrgäste verärgert: "Verspätungen sind ebenso an der Tagesordnung wie Unsauberkeit, Unfreundlichkeit, schlechter Service, chaotische Organisation und fehlende Transparenz", schreiben die Bahnhasser. "Seit die Deutsche Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG umorganisiert wurde, haben sich die Missstände nur noch verschlimmert."
Solange die Bahn, dieses für die Gesamtreproduktion einer Gesellschaft erforderliche Transportsystem, unprofitabel wirtschaftete, kümmerte sich der Staat um sie, und folgerichtig versprühte sie den Charme eines Finanzamtflurs. Als jedoch jemand auch bei den Eisenbahnen die Chance auf Verwertbarkeit witterte, wurde aus dem Laden, der bislang rumpelnde Waggons mit löchrigen Gepäcknetzen betrieb, ein Dienstleistungskonzern. Das ist naturgemäß nicht schön, aber doch nachvollziehbar.
Die neue privatisierte Bahn stellt interessanterweise jedoch nicht offensiv heraus, was sie auf dem umkämpften Markt der Von-A-nach-B-Bringer attraktiv macht: Anders als beim Autofahren kann man hier während der Reise schlafen, lesen, arbeiten, telefonieren und zwischendurch auf die Toilette gehen oder sich ins Restaurant setzen, um von dort, was ja wirklich schön ist, die vorbei fliegende Landschaft zu betrachten. Anders als bei den Billigfliegern hat man Beinfreiheit und kommt in der Regel im Zentrum der Stadt an, die man erreichen möchte. Und anders als bei Billigfliegern und im Auto ist die Bahn im Schnitt tatsächlich pünktlich: In welchem Flugzeug und in welchem Auto lässt sich schon eine Ankunft auf die Minute genau prognostizieren? Bei allem Ärger über Verspätungen: So exakt wie bei der Bahn funktioniert es mit dem Auto nie.
Anstatt solche Vorteile - oder gar ihre Umweltfreundlichkeit - in den Vordergrund zu rücken, will die Bahn immer nur abkassieren: Fahrpreiserhöhungen um sechs Prozent, "Bedienzuschlag", Servicetelefon für 1,80 Euro pro Minute. Darüber gibt es dann Ärger, der aber in der Regel schnell verpufft. Bei den Spar-Angeboten beispielsweise gibt es den "Bedienzuschlag" am Schalter schon lange, ohne dass es einem der empörten Kommentatoren aufgefallen wäre.
Es war und ist ja auch nicht die Preispolitik allein, die die Leute empört. Bei Ikea etwa verkauft das Unternehmen seinen Stolz darauf, genau das nicht zu machen, was andere Möbelhäuser tun: den Kleiderschrank wenigstens zu liefern, ihn vielleicht sogar aufzustellen. Wer das will, muss extra zahlen und zahlt auch extra, ohne zu murren. Der Posten Dienstleistung wird bei jedem modernen Unternehmen zur zusätzlichen Einnahmequelle.
Was bei den Debatten über "Bedienzuschlag" oder Preiserhöhung zum anstehenden Fahrplanwechsel die meisten Kommentatoren in Rage bringt, ist ein Mangel an Selbstverständlichkeit: dass die Bahn im Zuge der höheren Gebühren ihren Service eben nicht ausweitet. Oder noch nicht einmal, wie sonst üblich, den Service erst einschränkt und dann gegen Zusatzgebühr wieder ausweitet. Sondern dass sie, im Falle des "Bedienzuschlags" für etwas Geld haben wollte, das es vorher schon gab: für die Freundlichkeit ihrer Angestellten. Oder dass die Bahn die Abschaffung von Service mit Strafgeldern sanktioniert. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt müssen seit dem Sommer 80 Prozent der Regionalzüge ohne Schaffner auskommen. Um mit dieser Einsparung nicht massenhaftes Schwarzfahren zu motivieren, soll jeder Fahrgast, der ohne gültigen Fahrschein angetroffen wird, 40 Euro bezahlen. Die Möglichkeit des Nachlösens, ein weiterer ehemaliger Vorteil gegenüber anderen Verkehrsmitteln, entfällt. Der Hinweis darauf, der Fahrgast könne die Reise ja rechtzeitig planen, wirkt angesichts der Distanzen, um die es geht, hilflos. Eine Fahrt von Großkorbetha nach Oßmannstedt plant man ja kaum mit dem Aufwand, mit dem man einen Flug von München nach Taipeh vorbereitet. Die Widersprüchlichkeit der Einführung des Bußgeldes wird aber vollends erst offenbar, wenn man bedenkt, wie viele "Reisecenter" in der Regionalbahnwelt, also zwischen Großkorbetha und Oßmannstedt, geschlossen wurden. Deshalb gibt es beim Bußgeld Ausnahmen: Wer einsteigt, wo kein Fahrkartenverkauf existiert und der Automat nicht funktioniert, kann weiterhin nachlösen. So viel zu dem, was die Bahn unter Dienstleistung versteht.
Dabei ist es doch wie beim Biertrinken: Die im Supermarkt erworbene Flasche ist die billigste, teurer ist die am Tresen selbst abgeholte und am teuersten die von einer netten Bedienung an den Tisch gebrachte. Man zahlt Personal mit, und dessen Freundlichkeit wird zum Kapital. Das hat Auswirkungen auf die, die ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten. Sie müssen lächeln, lächeln, lächeln, unabhängig von der Tagesform und der Bezahlung, bloß damit sich dem Chef eine Mehreinnahme erschließt. "Selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit abgetrennt, ihr gegenüber objektiviert, um in rationelle Spezialsysteme eingefügt und hier auf den kalkulatorischen Begriff gebracht werden zu können", schreibt schon Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein über die Zurrichtung der Arbeitenden im Kapitalismus. Alles im Kapitalismus ist zu verdinglichen, alles ist warenförmig und wird irgendwann zur Ware. Auch das Lächeln.
Die Bahn zieht bei der Erfüllung des von jedem Marktteilnehmer verfolgten Ziels, auch noch aus der letzten Ritze des Unternehmens Geld zu schlagen, deshalb immer wieder den öffentlichen Unmut auf sich, weil sie sich besonders plump anstellt, wenn sie etwa im Preis begriffene Dienstleistung in Rechnung stellen will. Und weil der Begriff "Bedienzuschlag" so dämlich klingt, als sei er einer Vorschlagsliste der Kämpfer gegen Anglizismen in der deutschen Sprache entnommen.
Dabei werfen gerade Freunde der deutschen Sprache Mehdorn auch vor, dass sich sein Konzern "DB Mobility, Network, Logistics" nennt. Oder dass Mehdorn, angesprochen auf die schlechte Nahverkehrsanbindung des neuen Berliner Hauptbahnhofs, mit dem Satz zitiert wurde: "Wer hier mit der Bahn ankommt, kann sich auch ein Taxi leisten." Arrogant sei das und kleinen Leuten, die weder über Geld fürs Taxi noch über Englischkenntnisse verfügen, nicht zuzumuten.
Sonderlich substanziell ist solches Schimpfen nicht. Schon immer deckte das Klagen über die Bahn ähnlich wie das Reden über das Wetter ja auch den Bedarf an gesellschaftlichem Gesprächsstoff. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Schimpfen die Unfähigkeit, auf einen gesellschaftlichen Skandal anders als national zu reagieren. Zudem ist es die Unfähigkeit zu erkennen, dass die Bahn sehr bewusst solche Zielgruppen anspricht, die sich nicht in die öffentlichen Nahverkehrsbusse setzen, sondern in Taxis. Dass die Bahn, was sie als Staatsbetrieb noch musste, nicht auf wenig profitable Routen setzt, sondern solche Reisen in die Provinz zugunsten von schnellen und komfortablen ICE-Verbindungen zwischen Großstädten ausdünnt.
So haben sich im Grunde zwei Arten von Bahnkritik etabliert. Die eben skizzierte, die beanstandet, dass unprofitable Linien stillgelegt werden und etliche Landstriche nicht nur ökonomisch, sondern auch verkehrstechnisch abgehängt sind, ist eine grundsätzlich andere Kritik an der Bahn als die, die von Unpünktlichkeit, mangelndem Service oder, besonders peinlich, über schlechtes Englisch der Schaffner lamentiert. Senk ju vor träwelling heißt eines dieser besonders schlimmen Bücher von Bahnmotzern.
Die einen fordern, was man von den anderen selten hört: dass die Bahn weiter das tun soll, was man von einem Staatsbetrieb erwarten muss - unprofitabel für das gesellschaftliche Ganze zu sorgen. Das bedeutet auch, halbleer durch die Republik zu gondeln. Die anderen aber, die über Verspätungen fluchen und über Schaffnerdurchsagen lachen, wollen nicht von Großkorbetha nach Oßmannstedt geschaukelt werden, sondern schnell von Großstadt zu Großstadt, von Meeting zu Meeting schweben.
Die Alternative der einen zum Bahnfahren ist die Immobilität. Die Alternativen der anderen sind Auto, Flugzeug und bei den unangenehmsten Zeitgenossen Hubschrauber. Dieser Zwiespalt der Kritik verdankt sich einer Mentalität, die selbst einen sympathischeren Bahn-Chef als Hartmut Mehdorn wohl immer wieder in die Bredouille brächte: Dem ehemaligen Staatsbetrieb wird anders als einem scheinbar findigen Unternehmen wie etwa Ikea plump kapitalistisches Gebaren nicht zugestanden. Dabei dürfte sich zumindest Hartmut Mehdorn nach seinen jüngsten Desastern fragen, wer eigentlich die Bahnsteigkarte abgeschafft hat. Bis in die siebziger Jahre hinein musste man in der BRD noch ein Ticket lösen, wenn man seine Lieben unmittelbar am Zug abholen wollte. Die deutsche Bereitschaft, das zu akzeptieren, ließ schon Lenin lästern: "Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte."
Vielleicht war man hier also schon immer jenseits von Eden.
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