Kein Ende der Rekorde

Immer mehr Rekorde bei den Olympischen Spielen 2008 Höchstleistungen im Sport kennen keine Grenzen. Alles andere ist Ideologie

Wer es glauben will, kann ruhig glauben, dass in diesem Jahr 2008 tatsächlich das Ende der Geschichte erreicht wurde. Zumindest des Teils der Geschichte, der von aus Körpern bestehenden Menschen gemacht wird.

Usain Bolt hat bei den Olympischen Spielen in Peking mit nur 9,69 Sekunden einen neuen Weltrekord im 100-Meter-Lauf aufgestellt. Wenige Monate zuvor hatten französische Wissenschaftler vermeldet, kein Mensch könne schneller als 9,726 Sekunden über 100 Meter laufen, das sei die natürliche Grenze.

Da Bolt sogar drei Hundertstel Sekunden schneller gelaufen ist, als er gemäß Prognose hätte laufen können, darf diskutiert werden, ob der Sport im Zeitalter seiner technologischen Produzierbarkeit angelangt ist. Es sind die üblichen Dopingdebatten, die es entlang jeder Bestleistung gibt. Sie sorgen einerseits dafür, dass ein Wesensmerkmal des Sports, der Rekord, delegitimiert wird. Andererseits geben sie den Verlierern eine fantastische Erklärung an die Hand: Nur weil sie nicht gedopt haben, seien sie als Letzte ins Ziel gekommen; die besten Ehrlichen sozusagen.

"Der Körper als soziales Gebilde", schreibt die britische Anthropologin Mary Douglas, "steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest." Modernen Sport, der sich Messinstrumenten wie Stoppuhr, Maßband oder Waage bedient, gibt es erst seit etwa 150 Jahren - so lange wie es die bürgerliche Gesellschaft gibt. Die Olympischen Spiele gibt es nur wenig länger als hundert Jahre - so lange wie man vom Weltmarkt reden kann. Das bestimmt ganz wesentlich die "physische Wahrnehmung des Körpers", von der Douglas spricht. Der Körper, heißt das, sei immer und in jedem Fall Abbild der Gesellschaft, es könne überhaupt keine "natürliche", von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben.

Die "natürlichen" Grenzen, über die bei Olympischen Spielen so viel geredet wird, und die die französischen Forscher im 100-Meter-Lauf bei 9,726 Sekunden behaupt haben (niederländische Forscher kamen auf 9,29 Sekunden), sind nichts anderes als ein Konstrukt. Es gibt sie faktisch nicht.

Die Geschichte dieses sozialen und kulturellen Konstrukts zu erzählen, wäre reizvoll, offenbarte sie doch mehr über den modernen Sport als jede von einem Insider geraunte Behauptung, diese oder jene Leistung sei "mit natürlichen Mitteln", also "ungedopt" nicht erreichbar. In den sechziger Jahren beispielsweise fanden Wissenschaftler heraus, dass die natürliche Grenze des Hochsprungs bei 2,30 Meter liege, höher könne kein Mensch springen. Heute wird schon die auf 2,45 Meter liegende Latte überquert. Doch nicht nur mangelnde Fantasie, die Verleugnung der menschlichen Evolution oder die Ignoranz gegenüber des Wissens, dass Köper soziale und vergesellschaftete Konstrukte sind, lassen solche Prognosen lächerlich erscheinen. Es ist noch mehr: Zur traditionellen Körperkultur des Wahuma-Stamms in Ruanda gehörte etwa der Hochsprung. Als deutsche Kolonialisten um 1900 mit Kameras und Maßbändern anrückten, fanden sie heraus, dass die besten Wahuma-Männer locker 2,70 Meter übersprangen, indem sie sich von einem Ameisenhaufen abstießen. Ob dieser Haufen eine höhere Trampolinwirkung hat als etwa ein moderner Stadionboden, wie er im Pekinger "Vogelnest" zum Einsatz kommt, ist umstritten. In jedem Fall aber betrieben die Wahuma-Männer ihre Übungen, die - weil sie nicht gemessen wurde und nicht als Wettkampf ausgetragen wurden, kein Sport waren - jenseits des Weltmarkts.

Es ist pure Ideologie zu glauben, menschliches Leben sei jenseits des Weltmarkts undenkbar. Und dass ein junger Mann, der 100 Meter in 9,69 Sekunden läuft, das Ende der Geschichte markiert habe.

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