Warum machen erwachsene Menschen so etwas? Warum fahren etwa 200 Männer am Sonntag mit dem Fahrrad von Compiègne bei Paris nach Roubaix in Nordfrankreich? Eine Strecke von etwa 260 Kilometern, für die sie etwa sechseinhalb Stunden brauchen? Warum tun sich diese Männer sich auf dieser Strecke noch etwa 50 Kilometer Kopfsteinpflaster an? Wo sie doch wissen, dass es dort zu dieser Jahreszeit oft regnerisches Wetter hat, manchmal gar Schneematsch? Und kalt ist es auch dieses Jahr wieder.
Der Radklassiker Paris-Roubaix gilt in Radsportlerkreisen als »Hölle des Nordens«, und der Zielort Roubaix ist auch keine schöne Stadt. Es ist eine Industriestadt, die knapp 100.000 Einwohner und vor allem Textilindustrie hat. Ende des 19. Jahrhunderts, als dem Fortschritt noch Pathos gegönnt wurde, nannte man Roubaix die »Stadt der 1.000 Kamine«.
In solchen Gegenden können Sportarten groß werden, die etwas mit Leiden zu tun haben. Es waren ausgerechnet die zwei wichtigsten Textilunternehmer der Stadt, Theo Vienne und Maurice Perez, die 1896 das Radrennen von Paris nach Roubaix ins Leben riefen.
In Deutschland würde man so etwas wohl als Rheinischen Kapitalismus bezeichnen: Ein Ausbeutungsverhältnis, in dem der Chef noch weiß, was das Beste für seinen Malocher ist. Aber interessanterweise wurde Deutschland keine Radfahrer- und Radsportlernation.
Die Begeisterung, die etwa die Tour-de-France-Erfolge von Rudi Altig, Didi Thurau oder Jan Ullrich auslösten, speisten sich nicht aus der tiefen Verbundenheit mit dem Leiden, das solche Fahrer während der Rennen erleben. Dabei war der erste Sieger von Paris-Roubaix ein Deutscher. Josef Fischer fuhr am 19. April 1896 als erster Fahrer in Roubaix ein. Gestartet waren damals 51, angekommen sind 15. Aber Fischer blieb der einzige Deutsche, der das Rennen gewinnen konnte. Im vergangenen Jahr, 2002, wurde Steffen Wesemann vom Team Telekom immerhin Zweiter.
Die Symbolik von Paris-Roubaix ist ziemlich klar. Nur die härtesten kommen durch, bedeutet das Rennen Sportlern und Zuschauern gleichermaßen. Man kann noch auf den letzten Metern scheitern. Du kriegst nichts geschenkt. Mit Willen kannst du viel erreichen. Qual lohnt sich.
Wer sich auch an diesem Sonntag wieder an die Strecke stellen wird und das Rennen und die Sportler bewundert, hat diese Symbolik akzeptiert. Am deutlichsten wird sie angenommen von den Fans, die an den Kopfsteinpflasterpassagen stehen. Hier zeigt sich der wahre und der große Sport: Das Leiden der Athleten, für das die Sprache nur Worthülsen bereithält, die, wenn Paris-Roubaix auch in diesem Jahr wieder von der ARD übertragen wird, gewiss alle zu hören sein werden: Da werden die Zähne zusammengebissen, da trennt sich die Spreu vom Weizen und da zeigt sich, wer ein Mann ist, denn das ist halt die »Hölle des Nordens«.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen die Menschen im französischen Norden lebten, als der Radsport groß wurde, drücken sich in Paris-Roubaix sehr gut und anschaulich aus. Es ist der proletarische Stolz, das Leben zu meistern, den das Rennen bedeutet. Und zwar bis heute, über hundert Jahre nach seiner Gründung.
Paris-Roubaix ist nämlich bis heute eines der populärsten Klassikerrennen der Welt. Es zu gewinnen hat in der Profiszene immer noch einen hohen Stellenwert, und es gibt immer noch Millionen, die dem Rennen entgegenfiebern.
Der Sport hat in den letzten Jahren enorme Veränderungen mitgemacht. Meist lassen sie ihn als etwas von der Gesellschaft abgekoppeltes erscheinen: Eine soziale Veranstaltung nämlich, die betrieben wird von jungen, sorglosen Menschen, meist Männern, die Millionengehälter verdienen und so scheinbar überhaupt keinem sozialen Milieu zu entspringen scheinen, das einem vertraut anmutet.
Dabei lehrt uns doch die Popularität und die Symbolik eines Radrennens wie Paris-Roubaix, dass sich so ganz Wesentliches in der gesellschaftlichen Verfasstheit in den letzten hundert Jahren nicht geändert hat.
Warum also machen erwachsene Menschen so etwas? Das Fahren von Compiègne bei Paris nach Roubaix in Nordfrankreich unter widrigen Bedingungen?
Weil in diesem Rennen bis heute die Schönheit und das Hassenswerte am Kapitalismus ersichtlich ist: Sein historisch notwendiger Platz, denn der Mensch wurde frei und entledigte sich der Fesseln. Aber auch die entfremdete Qual, derer sich die Menschen in ihm unterwerfen müssen.
Gewiss, das lässt sich auch literarisch beschreiben, es ist zudem wissenschaftlich analysierbar, und mit den Mitteln der darstellenden oder bildenden Künste wäre es auch auszudrücken.
Aber einmal im Jahr, im April, wenn es womöglich noch stürmt und schneit, dann bekommt man diese Lehre der Geschichte halt auf der Landstraße vermittelt.
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