Solche Muskeln brauchen wir

Der Sportler als Symbol Max Schmeling wurde berühmt, weil in ihm stets mehr gesehen wurde als ein Boxer

Sogar das Boxen ist Ansichtssache. Nicht mal bei diesem Sport, dessen Kämpfe oft so scheinbar eindeutig auf ein K.o. hinauslaufen, endet die Macht des symbolischen Diskurses. Kurt Tucholsky lässt 1930 in einer Kurzgeschichte "einen älteren leicht besoffenen Herrn" zu Wort kommen: "Wir brauchen einen Diktator wie Maxe Schmeling oder unsan Eckner, sahre ick." Der neben dem Boxer noch für dieses Amt in Frage Kommende war Hugo Eckener, der 1924 erstmals mit einem Zeppelin den Atlantik überquert hatte. Max Schmeling, der im Jahr 1930 zum Boxweltmeister wurde, dient Tucholsky als Folie, auf die alles projiziert werden kann. "Nieda mit den Milletär! sahre ick, un hoch mit de Reichswehr!", spricht Tucholskys besoffener Herr weiter. "Ick sahre: Der Reichstach muß uffjelöst wern, das Volk muß rejiern, denn alle Rechte jehn vom Volke aus. Na, un wenn eener ausjejang is, denn kommt a ja sobald nich wieda! sahre ick. Wir brauchen eine Zoffjett-Republik mit ein unumschränkten Offsier an die Spitze, sahre ick. Und in diesen Sinne werk ick wähln."

Schmeling war wenige Monate vor Tucholskys Text in der Weltbühne Weltmeister im Schwergewicht geworden, weil sein Gegner Jack Sharkey wegen Tiefschlag disqualifiziert wurde. "Dieser Sieg, weil der Feind regelwidrig geschlagen hat und dem Zusammengehauenen trotzdem der Titel zuerkannt wird, das ist der deutsche Wunschtraum seit zehn Jahren", spottete Carl von Ossietzky damals in der Weltbühne. "Doch hat sich noch kein Ringrichter gefunden, der den Versailler Vertrag außer Kraft gesetzt, die Franzosen aus Straßburg, die Polen aus dem Korridor und, als köstliche Zugabe, die Juden auch noch aus Deutschland verjagt hätte. Es ist die kleine Komik des Zufalls, dass dieser Wunschtraum weder in einem Politiker noch einem Militär in Erfüllung gegangen ist, sondern in einem langen schlaksigen Gladiator von negroidem Einschlag". Boxerisch hielt Ossietzky auf Schmeling nicht sehr viel: "Es ist da die merkwürdige Unstimmigkeit, dass der Besiegte auf seinen eigenen Beinen fortging, während der Sieger, dem es auch in den vier Runden nicht gut gegangen war, halb ohnmächtig auf der Bahre abgeschleppt werden musste. Auch den Freunden des Boxsports dürfte das auffallen."

Max Schmeling war damals erst 25 Jahre alt, aber dennoch war er schon geübt darin, ein politisches Symbol zu sein. Zwei Jahre zuvor, im Januar 1928, verteidigte Schmeling seinen Europameistertitel im Halbschwergewicht gegen den Italiener Michele Bonaglia. "Als er den damaligen, von Mussolini persönlich ermunterten italienisch-faschistischen Europameister besiegt hatte", erinnert sich der Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner, "mutete uns das wie ein Sieg der Demokratie über den Faschismus an." Zwar liegt Kortner falsch mit seiner Vermutung, Bonaglia sei der Europameister. Das ist Schmeling, aber die falsche Titelzuordnung entwertet Kortners Beobachtung nicht. Der Italiener gilt als Günstling des italienischen Diktators Benito Mussolini. Die meisten der 8.000 Zuschauer im Berliner Sportpalast singen das Deutschlandlied, was nicht nur Kortner damals als Demonstration für die Demokratie versteht. Eine Gruppe junger Leute skandiert: "Es lebe Paganini, nieder mit Mussolini!" Auch Schmeling merkt, wie er wahrgenommen wird, und wehrt sich nur schwach: "Ich habe gegen Bonaglia geboxt und nicht gegen seine Freunde."


Dieser Sieg, der erstmals in Schmelings Leben mehr war als nur ein boxerischer Sieg, war für den Sportler das Entree in die bessere Gesellschaft. Unmittelbar nach dem Kampf ist er bei dem Galeristen Alfred Flechtheim eingeladen. Er trifft Fritz Kortner, Josef von Sternberg, George Grosz und Heinrich Mann. "Es war der Eintritt in die Welt", schreibt Schmeling in seinen Erinnerungen.

Schmeling war nun mehr als ein Boxer, seine Kämpfe waren mehr als Sport.

Ende März 1933, die Nazis waren nur kurz an der Macht, bat Adolf Hitler Schmeling in die Reichskanzlei. Er befand sich in der Vorbereitung auf einen Kampf gegen Max Baer und wollte dafür bald nach Amerika reisen. Max Baer war ein Boxer, der mit einem auf die Hosen gestickten Davidstern in den Ring trat, und alle hielten ihn für einen Juden. Die NS-Oberen erkannten die Symbolkraft, die in diesem Kampf liegen könnte, sofort. "Sie werden eine Menge Interviews geben, Herr Schmeling", sagte Hitler zu Schmeling. "Sagen sie den Schwarzsehern, wie friedlich hier alles ist und wie es vorangeht." Noch hatte die NS-Führung Angst vor der symbolischen Bewährungsprobe. Während das Radaublatt Stürmer vom "Pfundsjuden Bär" schrieb und dass der Kampf kein Sport, sondern eine "Kultur- und Rassenschande" sei, hielt sich der offizieller daherkommende Völkische Beobachter sehr zurück. Aus Nazisicht zu Recht, wie sich zeigen sollte: Denn Schmeling wurde von Baer gründlich verhauen.

"Wir denken nicht, einen Boxer zu einer repräsentativen Figur des Judentums zu stempeln", wunderte sich damals die in Berlin erscheinende Jüdische Rundschau über die Zurückhaltung der führenden Nazis, "aber eigentümlich ist es doch, dass der Völkische Beobachter vom 10. Juni in seinem Sportbericht über den Boxkampf Baer-Schmeling erklärt, Schmeling sei in New York von dem Deutsch-Amerikaner Max Baer besiegt worden."

Die Nazis vertrauten ihrem Symbol Schmeling nicht so ganz. Auch 1936, als Schmeling gegen das junge Boxgenie Joe Louis kämpfen sollte, hielt sich die Nazipresse merklich zurück. Das Propagandaministerium wies die Redaktionen an, die Boxer in den Vorberichten nicht als Vertreter "der weißen und der schwarzen Rasse" darzustellen. Dies gelte auch "im Falle eines Sieges Schmelings."

Aber Schmeling gewann. Es war der größte Kampf seines Lebens. Die Verblüffung, die es weltweit auslöste, dass da ein alternder Ex-Weltmeister aus Deutschland dieses Genie durch K.o. besiegen konnte, ist kaum zu beschreiben. Am ehesten hat es vielleicht die Detroit Free Press geschafft: "Die Kuh tötete den Metzger. Der Delinquent hat seinen Henker ausgeknockt. Ein Millionendollargeschäft ist in den Bankrott gestürzt."

Auch die Nazis ließen die Zurückhaltung fallen. "Goebbels, hören Sie", rief Hitler, als er die Filmaufnahmen des Kampfes erstmals sah, "das kommt nicht in die Wochenschau! Dieser Film muss als Hauptfilm laufen! Im ganzen Reich!" Den Film Schmelings Sieg - ein deutscher Sieg sahen über vier Millionen Zuschauer, was auch einen besonders freute: Max Schmeling, der nämlich die Weltrechte an den Filmaufnahmen des Kampfes besaß und gut kassierte.

Einmal mehr wurde aus Max Schmeling, dem Boxer, ein politisches Symbol. Neben dem, dass sie ihn propagandistisch ausschlachteten, sahen die Nazis in Schmeling auch einen Beweis ihrer Theorie des arischen Übermenschentum. Ludwig Haymann, Profiboxer deutscher Schwergewichtsmeister und mittlerweile Sportchef des Völkischen Beobachters, schrieb, dass Schmelings Stil "in Wirklichkeit nichts weiter als eine in Temperament und Volkstum wurzelnde Kampfform und mithin der erste gelungene Schritt zum deutschen Boxen" sei.

Schmeling hat sich gegen diese abstruse Vereinnahmung nicht gewehrt, für Haymanns Buch Deutscher Faustkampf nicht pricefight, in dem dieses Lob des arischen Boxens steht, schrieb er das Vorwort, in dem es heißt: "Kein Geringerer als unser Führer Adolf Hitler hat den charakterbildenden Wert des Boxsportes erkannt."

Rein sportlich bedeutete Schmelings Sieg über Joe Louis das Recht, den damaligen Weltmeister Jimmy Braddock aus den USA herauszufordern. Doch die Verhandlungen zogen sich hin, gleich zwei angesetzte Kampftermine kamen nicht zustande, und die Nazioberen schäumten. "Max von Braddock düpiert", notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch. "Dieses Schwein stellt sich aus Feigheit nicht. Echt amerikanisch."

Hintergrund für das Nichtzustandekommen des Titelkampfes war eine in Amerika erstarkte Bewegung für einen Boykott Nazideutschlands. Gerade den symbolisch so wichtigen Titel des Schwergewichtsweltmeisters, des, wie man manchmal liest, "stärksten Mannes der Welt", ja des "großen Zehs Gottes" (Norman Mailer), wollte man nicht in Hitlerdeutschland sehen.


Erst 1938 bekam Schmeling wieder eine WM-Chance. Mittlerweile hatte ausgerechnet Joe Louis Jimmy Braddock den Titel abgenommen, und die NS-Presse schwadronierte vom "wahren Weltmeister" Schmeling. Die Siegesgewissheit in Deutschland war immens, und auf keinen Fall wollte Goebbels, wie 1936, zu spät die Symbolik des überlegenen Ariers nutzen. "Der Halbneger", heißt es in einer Reportage über Joe Louis, sei "wie zu allen Dingen des Lebens, so auch zum Kampf im Ring mit der primitiven Einstellung des Naturburschen versehen". Louis gilt den Nazis als "das Lehmgesicht aus Alabama".

Auch in Amerika wurde die politische Symbolik des Kampfes wahrgenommen. Der Historiker Arthur Ashe, übrigens in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein Weltklasse-Tennisspieler und als erster Schwarzer, der Wimbledon gewann, ein Experte in Sachen politischer Symbolik des Sports, beschreibt den Druck, der auf Louis lastete, so: "Kurz gesagt, Louis hat zu gewinnen. Oder ganz Amerika muss die psychologischen Konsequenzen von weiterem Nazigeschwätz der rassischen Überlegenheit über Schwarze und Juden erleiden." US-Präsident Franklin D. Roosevelt sagte zu Louis: "Solche Muskeln brauchen wir, um Deutschland zu schlagen."Und auch Louis selbst war sich der Bedeutung bewusst. "Schmeling repräsentierte alles, was Amerikaner nicht mögen", schreibt er in seiner Autobiografie My Life. "Sie wollten ihn geschlagen sehen, gut geschlagen. Nun stand ich hier, ein schwarzer Mann. Ich hatte die Bürde, ganz Amerika zu vertreten."

Max Schmeling dagegen wollte diese Bedeutung nicht wahrhaben, sie kam ihm wie eine ungerechte Politisierung des Sports vor. Empört schrieb er etwa in seinen 1977 erschienenen Erinnerungen, alle Welt habe "plötzlich in dem Revanchekampf eine Auseinandersetzung zweier politischer Systeme" gesehen. Ein Opfer sei Louis, dem man "eingeredet habe, ich wolle in dem bevorstehenden Kampf die Überlegenheit der Weißen gegenüber den Negern demonstrieren", weshalb sich Louis "geradezu in eine Vergeltungsrage hineingesteigert" habe.


Schmeling wehrte sich zu Recht, einerseits. Ihn hatte niemand gefragt, ob er herausragendes Symbol des Nazisystems sein, ob er in New York als arischer Übermensch einen minderwertigen Neger verhauen wollte. Aber, andererseits, richtete sich Schmelings späte Gegenwehr auch im Nachhinein vor allem gegen die amerikanische Öffentlichkeit, der er vorwarf, ihn zu hassen, weil sie den Sport politisch instrumentalisiere; "den Titel gönne man mir nicht, weil ich wirklich ein Aushängeschild der Nazis geworden sei", referiert er in seinen Erinnerungen wohlmeinende amerikanische Stimmen, "ob durch oder ohne mein Zutun."

Aber Schmeling hatte Glück, er verlor diesen Kampf beinahe noch deutlicher als er den Kampf gegen Max Baer verloren hatte. Nach 124 Sekunden war er kampfunfähig, und sein Trainer stürmte den Ring.

Joseph Goebbels schrieb in sein Tagebuch: "Eine furchtbare Niederlage. Unsere Zeitungen hatten zu sehr auf Sieg getippt. Nun ist das ganze Volk deprimiert." Schmeling in seinen Erinnerungen: "Aus dem Abstand des Alters denke ich mitunter, dass jene Niederlage tatsächlich ihr Gutes gehabt hat. Ein Sieg über Joe Louis hätte mich vielleicht wirklich zum ›Parade-Arier‹ des Dritten Reiches gemacht."

Schmeling blieb zwar, anders er selbst darstellt, im Dritten Reich eine öffentliche und einflussreiche Person, aber das propagandistische Projekt, aus ihm einen "arischen Übermenschen" zu machen, hatte Joe Louis verhindert.

Schmeling, der als jemand wahrgenommen wurde, der er nicht oder nur zu einem kleinen Teil war, konnte seine Popularität nutzen: In der so genannten Reichskristallnacht 1938 versteckte er die zwei jüdischen Jungen Werner und Henri Lewin in einem Hotelzimmer, in das er sich eingemietet hatte. Wenige Tage später soll er der Familie Lewin zur Flucht nach Schanghai verholfen haben.

1941 sprach Schmeling bei den NS-Oberen für einen Berufskollegen vor, den Wiener Schwergewichtler Heinz Lazek. Dessen jüdische Freundin erwartete ein Kind, aber Schmeling bewirkte, dass die Frau, die schon verhaftet war, frei kam und dass Lazek, dem ein Prozess drohte, stattdessen nur zur Wehrmacht eingezogen wurde.

1944 setzte sich Schmeling für die Begnadigung eines von den Nazis zum Tode verurteilten niederländischer Offiziers ein. Er bewirkte einen Zeitaufschub, der letztlich für den Mann das Leben bedeutete. Solche Fälle gibt es in Schmelings Leben einige, und nur selten sprach er darüber. Schmelings Lehre, die er aus den Versuchen der Nazis, ihn als Aushängeschild zu gebrauchen, gezogen hatte, war: möglichst keine öffentliche Person mehr zu sein. Als ihn die jüdische Raul-Wallenberg-Stiftung für die Rettung der Lewin-Brüder ehren wollte, sagte Schmeling zu einem Freund: "Was ich getan habe, würde ich immer wieder tun. Wo ich kann, stelle ich mich eben vor Schwache, Unterdrückte und Verfolgte. Aber die Nazis haben mich nicht für sich vereinnahmen können, und dann sollten das die Juden jetzt auch nicht tun."


Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde Schmeling ein letztes Mal als politisches Symbol benötigt. Eine Initiative namens "Wir für Deutschland e. V." buchte Werbetafeln, um ein Plakat aufzuhängen, das Schmeling mit dem aus der DDR stammenden Halbschwergewichtsboxer Henry Maske zeigt. "Kaum war die Mauer geöffnet, haben wir Freundschaft geschlossen", ist darauf zu lesen.

"Anstand und Fairness, Menschlichkeit und Bescheidenheit zeichneten ihn ebenso aus wie sein Engagement für das Gemeinwohl", würdigte Bundespräsident Horst Köhler in seinem Nachruf den Boxer, der am 2. Februar 2005 im Alter von 99 Jahren in Hollenstedt bei Hamburg starb.

Max Schmeling wurde berühmt, so lässt sich zusammenfassen, weil in ihm stets mehr gesehen wurde als ein Boxer: Er stand Ende der Zwanzigerjahre für die Demokratie, Anfang der Dreißiger für den Antisemitismus, Mitte der Dreißiger für die Naziherrschaft, später für die Rettung von bedrohten Juden und zuletzt für die Wiedervereinigung. Immer jedoch, und oft gegen seinen Willen, diente der größte Boxer, den Deutschland je hervorgebracht hat, als Symbol.

Von Martin Krauß erscheint am 21. Februar: Schmeling. Die Karriere eines Jahrhundertdeutschen, Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 264 S., 21,90 EUR


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