Zeitversetzt

Linksbündig Wie künftig bei Live-Übertragungen die Sittlichkeit des Gesendeten sicher gestellt werden soll

Bei der Verleihung der diesjährigen Grammys am vergangenen Wochenende durfte Janet Jackson nicht auftreten, und der geehrte Justin Timberlake trug eine Entschuldigung vor, aus der ein wenig klar wurde, was da überhaupt los war. Eine Woche vorher nämlich waren Frau Jackson und Herr Timberlake gemeinsam in der Pause zur Superbowl, dem Finale der amerikanischen Footballmeisterschaft, aufgetreten, und Herr Timberlake hatte Frau Jackson an die Brust gegriffen, die Hälfte des BHs runtergerissen, woraufhin Frau Jackson mit halber bloßer Brust, einzig bedeckt mit einem albernen silbernen Sternchen zu sehen war. Beides, sowohl die Superbowl-Halftime als auch die Grammy-Verleihung, wurden live übertragen.

Das wäre noch vor kurzem keine Meldung wert gewesen. Aber heutzutage, im Februar 2004, ist das so selbstverständlich nicht. Denn die Geschichte von Frau Jackson und Herrn Timberlake hat einen bemerkenswerten Vorlauf, sie begann im Jahr 1998.

Der Sommer damals in Frankreich war schön und heiß, und weil ja schließlich Ayatollah Khomeini eine Weile im französischen Exil gelebt hatte, wusste man auch im Iran, was das bedeutet. Denn gerade fand die Fußball-WM statt, und das Fernsehen des Iran, dessen Fußballer unter anderem 2:1 gegen die USA gewannen, übertrug die Spiele nicht wirklich live, denn in einem solchen Sommer könnten ja auch Frauen ohne Kopftuch, aber mit T-Shirt, oder Männer, die ihren Oberkörper frei zeigen, ja, wenn es ganz heftig käme, gar Frauen mit freiem Oberkörper zu sehen sein.

Die Mullahs zeigten sich modern und präsentierten die Fußballspiele mit Time-Delay: um zehn Sekunden zeitverzögert, was der Regie im Teheraner Sendezentrum die Möglichkeit gab, die französischen Bilder, die Fans auf den Tribünen zeigten, durch Bilder zu ersetzen, die züchtig gekleidete Fans zeigten.

Lustig, wenn auch ein wenig an der Glaubwürdigkeit kratzend, wurde der Coup der iranischen Fernsehgewaltigen, weil aus irgendeinem Grund die Fanbilder, die aus heimischen Stadien zur Verfügung standen, im Winter aufgenommen worden waren und folglich abwechselnd vor Hitze nach jeder denkbaren Wasserflasche greifende Fußballer und vor Kälte in warme Mäntel eingehüllte Zuschauer zu sehen waren.

Time-Delay verhinderte also die Unzucht, die in iranischen Programmen ohnehin undenkbar ist, was, um beim Beispiel Fußball zu bleiben, schon dadurch sichergestellt ist, dass Frauen nicht zum Fußballgucken in iranische Stadien gehen dürfen.

Nun aber, im Februar 2004, wurde die grandiose Idee des Time-Delay nach dem Auftritt von Janet Jackson und Justin Timberlake bei der Superbowl recycelt. Dass sie ihre Weltpremiere bei den Mullahs im Iran gehabt hatte, störte von den Freunden einer amerikanischen Sittlichkeit niemanden. Die Zeremonie der Grammy-Verleihungen begann letzten Sonntag in New York fünf Minuten früher, so dass für das, was die iranischen Mullahs noch in zehn Sekunden meisterten, ganze fünf Minuten zur Verfügung gestanden hätten: Anständige Bilder sicherzustellen, die ein eventuell unanständiges Treiben auf der Bühne hätten überdecken können.

Nun könnte man, so legen es die zwei Beispiele aus Teheran und New York ja nahe, Time-Delay für ein perfides Zensurinstrument halten. Die Einschätzung klingt plausibel, übersieht aber, dass eine Zensur, von der alle informiert sind, ihre Wirkung nicht so recht entfalten kann: Schon die iranischen Mullahs fielen mit ihren Bildern frierender Fans auf. Und dass man in New York die aktuell bedeutendsten Musikkünstler der Welt fünf Minuten vorher einbestellen kann, ohne dass die Information nach außen dringt, ist auch nicht so recht glaubhaft.

Das nimmt denn auch Befürchtungen die Spitze, mittels Time-Delay könnten künftig Auftritte wie jener berühmte des Michael Moore bei der letzten Oscar-Verleihung rausgeschnitten werden. Ein so zensiertes Stück erhielte eine um Längen größere Wirkung als eine von den Stars nur gelangweilt zur Kenntnis genommene Rede von Herrn Moore.

Das Time-Delay ist eine vergleichsweise vorgestrige Zensurmaßnahme. Und auch die Ausladung von Janet Jackson war ein eher sinnloses Instrument gegen vermeintliche Unzucht. Viel effektiver war, dass die Veranstalter neben Justin Timberlake seine Mutter gesetzt hatten.


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