La Ciotat, mein Urlaubsort in den Osterferien, liegt an der französischen Mittelmeerküste. Man darf es sich gemäßigt pittoresk vorstellen: knorrige Olivenbäume in mannshohen Rostrot-Töpfen, drei kahl markante Dunkelgrau-Berge und natürlich eine Promenade mit Bootsmarina. Da aus dem nahen Rhônetal der Mistral herein bläst, ist das Meer oft ziemlich kalt. Ein besonderer Blickfang ist die Werft mit ihren hohen beigen Hallen und ihren weißen Jachten – eine der ersten Oligarchenjachten, Igor Setschins „Amore Vero“, wurde hier beschlagnahmt. Einmal schrillte in der ansonsten ganz stillen Werft eine Sirene, es war ein dramatisch wellenförmiges, schrecklich stahlknatterndes Geheule. „Das ist ein Salut für die ehema
emalige Bürgermeisterin“, erklärte mir jemand, „sie ist vor zwei, drei Tagen gestorben“.La Ciotat bedeutet einfach nur „Stadt“. Es kommt vom lateinischen „civitas“, an kommunalen Objekten prangt das lateinische Label „Civitatensis“. Rosy Sanna, Bürgermeisterin von 1995 bis 2001, wurde 82 Jahre alt. Sie war Kommunistin, das letzte in einer langen Reihe linker Stadtoberhäupter. Das Regionalblatt La Provence schrieb: Als einst der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen in der Werft agitieren wollte, habe Rosy Sanna mit einem Laster den Zutritt blockiert. Der Kampf ihres Lebens galt der größtenteils schon geschlossenen Werft, in den 1990er-Jahren marschierte sie mit einem „Komitee der Arbeitslosen“ auf. Rosy Sanna obsiegte, die Werft wurde in öffentlichem Eigentum weitergeführt.Allerdings fiel die Stadt bald darauf an die bürgerliche Rechte. In „La Ciotat Shipyards“ umbenannt, hält die Werft heute acht bis zehn Prozent des Weltmarkts bei der Reparatur von Jachten, über hundert mehr als 50 Meter lange Schiffe werden hier jedes Jahr überholt. Die Stadt, welcher Setschin & Genossen Gutes taten, begann in kurzer Zeit rechts bis rechtsextrem zu wählen. Im Stadtparlament blieben nur noch vier heillos zerstrittene Linke übrig. Gewiss, die Arbeiterschaft schrumpft, auch mögen der Tourismus und der Zuzug wohlhabender Ruheständler eine Rolle spielen. Aber auch so fragt man sich: Wie konnten sie das ihrer „Mutter Courage“ antun?Rosy Sanna knackte Nüsse per HandAn einem Samstag wehte der echte, kalt ins Gesicht fahrende Mistral. Der Kleine, den ich auf meinen Schultern trug, konnte die Zeitung mit Rosy Sannas Nachruf nicht mehr halten, sie fiel ins Meer. Ich ging zur massiv steinernen Kirche, zog aus dem Haufen, der für die Segnung von Palmzweigen vorbereitet war, den längsten Ast heraus und fischte den Nachruf aus der See. Nach der Trockenlegung ließ sich Folgendes rekonstruieren: Rosy Sanna hatte einen pfeifenden Atem. Hohe politische Ämter hatte sie sich lange nicht zugetraut. Und sie konnte zur Freude ihrer Enkel Nüsse mit einer Hand aufknacken.In Frankreich wurde gerade gewählt. Da ich mit meiner Frau eine slawische Sprache spreche, wurden wir mehrmals für Ukraine-Flüchtlinge gehalten. Das Missverständnis war verständlich, nach Frankreich waren recht wenige Kriegsvertriebene gekommen. In der Nachtbar, die alle vier Stockwerke eines schmalen Promenadenhauses umfasste, spielte die dreiköpfige Kneipenführung schon einmal Friedensverhandlungen durch. Putin den Donbass überlassen? Aber in welchen Grenzen? Und würde ihn das nicht zu mehr ermutigen? Den ersten Wahlgang gewann in der Stadt Marine Le Pen, insgesamt 40 Prozent wählten rechtsaußen.Ich suchte den Kontakt zu Mitstreitern von Rosy Sanna. Das war schwer, die tummelten sich nicht im Netz. Eine Arbeitsgruppe von Asbestopfern, veraltete Festnetznummern. Schließlich ging ich zum sichtlich von Kommunisten errichteten Rathaus. Der große Stein davor, von Rosy Sanna hinterlassen, erinnerte an den 26. April 1990, an den ersten Marsch der Arbeitslosen. Hinter dem Empfangsschalter zwei Plakate, das erste warb mit blassblauen Blüten für eine Kunstausstellung, das zweite für mehr Sensibilisierung gegen dschihadistische Radikalisierung.Die Empfangsdame – Marine Le Pen wie aus dem Gesicht geschnitten – hatte die Namen von Rosy Sannas Mitstreitern noch nie gehört. Alles, was sie auftreiben konnte, waren die Nummer des Stadtarchivars und die Mailadresse von Karim Ghendouf, des auch schon ziemlich langjährigen Chefs der städtischen Kommunisten. Ich schrieb an Ghendouf, ob er mir erklären könne, warum Rosy Sannas Stadt heute rechts wählt. Ich warte seither auf eine Antwort.