In seiner letzten Kolumne (Freitag 32/07) hatte Martin Leidenfrost die Exkursion zu einer Insel im südmährischen Stausee Nové Mlyny beschrieben. Die Erkundung per Schlauchboot führte zu einer verlassenen Kirche romanischen Ursprungs - der einzig noch verbliebenen, steinernen Erinnerung an eine Ortschaft, die für immer im Wasser versank, als während der siebziger Jahre in der damaligen Tschechoslowakei der Zusammenfluss der Flüsse Thaya, Svratka und Jihlava aufgestaut wurde.
Erinnerungen sind es auch, die Leidenfrost zu dieser Ostwind-Folge animiert haben. Zum ersten Mal in diese Reihe ist Minsk Ort des Geschehens, das sich zuweilen ganz anders darstellt, als es die im Westen mit Bedacht gepflegten Klischees erwarten lassen.
Wenn es zutrifft, dass unser Leben vor allem von den Anfechtungen des Banalen bedroht ist, dann war mein Tag in Minsk eine glückliche Ausnahme. Es war ein Tag im Frühsommer 2002, ein langer, luftig-milder Sonnentag, und ich erinnere mich, die Stadt am späten Abend heiter und gelöst verlassen zu haben. Ich nehme an, dass mich an jenem Tag der nagende Biss des Banalen aus einem ganz bestimmten Grund nicht erfasst hat: Ich hatte immerzu den Gedanken im Kopf, mich im Zentrum der letzten Diktatur Europas zu befinden.
Meine Reise nach Minsk hatte denn auch damit begonnen, dass mich die Republik Belarus nicht haben wollte.
"Haben Sie denn ein russisches Visum?", fragte mich der weißrussische Konsularbeamte am Telefon.
"Nein, denn ich will überhaupt nicht nach Russland."
"Besorgen Sie sich erst mal ein russisches Visum, dann sehen wir weiter!"
"Aber ich möchte nicht nach Russland. Ich möchte von Riga nach Kiew fahren, und da liegt nun einmal Ihr Land dazwischen."
Der Beamte am anderen Ende der Leitung schwieg vernehmlich. So sehr es ihm widerstrebte, meinen Antrag auf ein Transitvisum entgegenzunehmen - gegen die Überzeugungskraft der Geographie konnte auch er nicht an. Ein Konsularbeamter, der Reisewillige in ein anderes Land schickt - ich war fasziniert. Hat nicht Nikita Sergejewitsch Chruschtschow über die Weißrussen gesagt, sie dürften als erste im Kommunismus leben, da sie schneller als andere ihrer Muttersprache entsagen würden?
Vollkommen verblüht
Ich habe Minsk mit dem Schlafwagen erreicht, am frühen Morgen und unrasiert. Im Rückblick komme ich mir ein wenig verrückt vor, aber als ich an diesem Morgen über den zentralen Boulevard der weißrussischen Hauptstadt lief, hielt ich nur nach einem Ausschau - nach Diktatur. Gegenüber dem frisch in Gelb und Beige gestrichenen Palais der Staatspolizei wurde ich erstmals fündig. Auf einem gepflegten Rasenstück stand die Statue Felix Dscherschinskijs, der einst die erste sowjetische Geheimpolizei, die Tscheka, begründet hatte.
Minsk ist eine auf sanft gewellten Hügeln liegende Stadt, in der es Touristen wie Regierenden leicht fällt, den Überblick zu wahren. Als nähme die Topographie des Regierungsviertels die Art des Regierens vorweg, bildet die ukrainische Hauptstadt Kiew einen denkbar deutlichen Gegensatz zur weiten Minsker Luftigkeit: Die Hauptstadt der ungleich größeren Ukraine ist so unübersichtlich wie das Land. Jähe Grabenbrüche tun sich mitten im Stadtgebiet Kiews auf. Vom Garten des Parlaments, am Steilufer des Dnjepr gelegen, mag man sich in den Tod stürzen. Der ukrainische Präsident residiert in einer schmalen Gasse, deren Zufahrtsstraßen über einen steilen, buckligen Hang hinaufführen. Das Viertel riecht nach Häuserkampf, allein die Enge des Gassengewirrs versetzt die Security in zwanghafte Nervosität.
Minsk dagegen ist aufgeräumt. Auf den Ausfallstraßen der Stadt soll ein Zitat von Präsident Alexander Lukaschenko plakatiert sein: "Die Weiße Rus muss weiß sein, sauber und schön". Die Aufseherin einer Kunstausstellung, die sich als Anhängerin des Präsidenten zu erkennen gibt, lobt die Sauberkeit ihrer Stadt. Sie sei einmal im Ausland gewesen - erzählt sie mir - in Rom. "Ich war schockiert, wie schmutzig dort alles ist."
Auf einem Straßenmarkt kaufe ich ein ausgebleichtes Schulheft. Es dient Deutschlernenden und listet auf den ersten Seiten Musterbeispiele der deutschen Grammatik auf: "Am liebsten beschäftige ich mich mit meinen Briefmarken."
Am Nachmittag passiert, womit ich am wenigsten gerechnet habe: Ich beobachte eine Kundgebung der Opposition. Ich brauche einige Zeit, bis ich meinen Augen traue. Warum wird die Demonstration nicht sofort aufgelöst? Warum greifen die vielen Uniformierten nicht ein, die ich auf den Straßen gesehen habe? Wie kann die Diktatur das Verteilen von Flugblättern im Nervenzentrum der Stadt erlauben?
Die Flugblätter werden am zentralen Boulevard verteilt, vor einer McDonald´s-Filiale in Minsk, offensichtlich der allgemein anerkannte Treffpunkt. Auf dem Flugblatt verlangt eine Frau Aufklärung über den Verbleib ihres Mannes, eines Kameramanns. Das Foto des Verschwundenen zeigt einen schönen jungen Mann mit sanftem Blick. Daneben ist seine gleichaltrige Frau abgebildet, vollkommen verblüht.
Nachdem eine Handvoll junger Leute eine Stunde lang Flugblätter verteilt hat, beginnt in der Nähe eine kleine Demonstration. Die Gruppe, die zu keinem Zeitpunkt mehr als hundert Köpfe zählt, nimmt sich auf dem weiten Platz vor dem "Palast der Republik" kümmerlich aus. Die Demonstration ist beinahe lautlos, kein Sprechchor, kein Megaphon, keine Trillerpfeife dringt in den Verkehrslärm des angrenzenden Boulevards. Frauen halten unaufdringlich kleine gemalte Transparente hoch, zeigen schwarzweiß kopierte Porträts Verschwundener. Ein kleines Aufgebot uniformierter Polizei sichert die Demonstration. Geordnet geht alles seinen Gang.
Die Mehrzahl der Demonstranten ist fortgeschrittenen Alters oder unvernünftig jung - die mittlere Generation ist kaum vertreten. Frauen sind in der Überzahl. Ein eifriger Junge von vielleicht 18 Jahren trägt ein T-Shirt, das mit Fotos von Verschwundenen bedruckt ist. Als sich die Kundgebung so unmerklich auflöst, wie sie begonnen hat, verlässt der Junge den Platz und eilt in die Fußgängerunterführung am Rand des Platzes. In dem Moment hat es der entspannteste aller zufälligen Beobachter, der die ganze Zeit leger auf der Brüstung über der Unterführung herumgelümmelt hat, plötzlich eilig. Der in Strandmode gekleidete Mittvierziger erschrickt geradezu beim Anblick des vorbeihuschenden Jungen und folgt ihm zielstrebig in die Unterführung. Zuvor hat er der Demonstration kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
Seine weniger unauffälligen Kollegen, die unweit davon in weinroten Ladas neuerer Bauart sitzen, bleiben bis zuletzt locker. In einem dieser Ladas haben es sich drei rasierte junge Männer bei geöffneten Türen gemütlich gemacht. Sie tragen weite, aufgeknöpfte Anzüge aus den achtziger Jahren und sprechen mit ernster Miene in große Funkgeräte. Einer lungert ausgestreckt auf dem Rücksitz, vorn schwingt ein Fuß aus dem Wagen, der Dritte sitzt mit weit im Schritt auseinander genommenen Beinen da.
Schaum ins Gesicht
Auf der anderen Seite des Boulevards erstreckt sich, leicht ansteigend, der Oktoberpark. Auf seinem höchsten Punkt liegt der Präsidentenpalast, ein großer massiver Bau, auf allen Seiten von großzügigen Rasenflächen umgeben.
Der Oktoberpark war an diesem Sommertag voller junger Leute, zahlreiche Paare hielten auf schattigen Parkbänken Händchen. Ein Hochgefühl überkam mich, das ich mir auch im Nachhinein mit dem beeindruckenden Mut der Demonstranten allein nicht erklären konnte. Ich wusste sehr wohl, dass diese Diktatur meinem Leben keinen Sinn gab. Sie fordert ihre Opfer, aber sie expandiert nicht, und damals dachte ich, sie vergeht.
Am Rande des Oktoberparks, recht nah am Hauptportal des Präsidentenpalasts, stand ein grüner Pavillon in einer Art von Jugendstil. Es war eine öffentliche Toilette, sauber und professionell geführt, auch für lokale Verhältnisse günstig, mit einem großzügigen Waschraum ausgestattet. Hier beschloss ich, die überfällige Nassrasur durchzuführen.
Ich bin ein schlechter Barbier meiner selbst: Wenn die Begleitumstände der Rasur auch nur irgendwie widrig, wenn Blicke kritischer Beobachter auch nur entfernt zu befürchten sind, schneide ich mich ohne jeden Zweifel blutig. Ich stand allein im Waschraum, rieb Schaum auf mein Gesicht und hörte vom Eingang her, wie bierselige ältere Kerle, vom Blasendruck befreit, prustend und feixend versuchten, die Gebühr von 120 Belarus-Rubel zu prellen.
Es blieb beim Versuch, die Frauen an der Kassa nahmen es den Kerlen nicht weiter übel. An jenem Sommertag in Minsk ist mir die Rasur einwandfrei gelungen.
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