Wohl nur ein bedeutendes europäisches Land gibt es, in dem der Anarchismus einmal zu den führenden Kräften des politischen Spektrums zählte – das war Spanien in den 1930er-Jahren. Am 1. Mai 2023, als die kleine anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT das Comic-Heft 1937. Die Mai-Ereignisse präsentierte, bot sich mir die Gelegenheit, endlich auch einmal lebende Anarchisten zu treffen.
Ich lief in Barcelona beim klassischen Mai-Aufmarsch mit. Er wurde von den größten spanischen Gewerkschaften, der exkommunistisch-linkskatholischen CCOO und der sozialdemokratischen UGT, angeführt, letztere in T-Shirts mit dem Aufdruck „Löhne oder Konflikte!“, andere mit der Variante „Lohn oder Konflikt!“. Hinten wurde der kompakte Zug
e der kompakte Zug von lauten anti-amerikanischen Kubanern, Kolumbiern mit einem Konterfei des brasilianischen Präsidenten Lula und rot gestylten Türken abgeschlossen. Violetthaarige Provokateurinnen mischten sich mit der Parole „Fuck Gender“ ein, und ein halbfinnischer, vor 30 Jahren nach Katalonien ausgewanderter Londoner verkaufte ein Regenbogenbüchlein und ein trotzkistisches Kampfblatt. Dessen Schlagzeile: „Lernen wir von Frankreich!“Auf der Tribüne, am strandnahen Ende der Via Laietana, arbeitete sich ein routinierter Schreihals an der gemeinsamen Parole dieses Jahres ab: „Löhne erhöhen, Preise senken, Reichtum verteilen!“ Da sowohl Barcelona als auch Spanien von Linken regiert werden, fehlte ein Blutdruck steigerndes Feindbild, wie es der unnachahmliche Emmanuel Macron in Frankreich abgibt. Nach weniger als anderthalb Stunden reckte man stumm die Faust zur Internationale, und es war vorbei.Die kleine Gewerkschaft CNT fand ich in einer ruhigen Seitenstraße von L’Hospitalet de Llobregat, einer erzroten, einst aus Andalusien und später aus Lateinamerika besiedelten Arbeitervorstadt Barcelonas. Draußen ein Zitat: „Wir haben keine Angst vor Ruinen. Wir werden das Land erben. Buenaventura Durruti, 1936.“ Ich setzte mich in das schmale längliche Gewerkschaftslokal. Schon auf den ersten Blick stach die Ordnungsliebe dieser Anarchosyndikalisten hervor: Die historische Aufstandskunst an den Wänden war säuberlich in Glas gerahmt, ein Zettel erbat auf Kastilisch und Katalanisch die Mülltrennung von Papier und Karton, in die gläserne Kasse auf dem Kühlschrank war ein Einheitspreis von einem Euro einzuwerfen, und ein zu spät kommender Altaktivist musste an der zeitweise von innen versperrten Eingangstür klingeln. Ein verwegener, sehniger Glatzkopf zeigte mir begeistert die Anarcho-Motive auf seinem Facebook-Profil: „Ni Dieu ni race ni maître“ (Weder Gott noch Rasse noch Herr!). Er war Mitarbeiter des städtischen Gartenamts und reckte die Faust vor einer sehr akkurat geschnittenen Hecke.Der Texter des Mai-1937-Comic-Heftes griff später in seinem auf Spanisch gehaltenen Vortrag auch den Versuch einer „Eliminierung“ des Anarchismus durch Kommunisten an: „Comunista estalinista imperial, no?“ Die Formensprache der aufgehängten Plakate war an das Design frühsowjetischer Agitprop-Kunst angelehnt, nur dass Hammer und Sichel fehlten. Auf dem Plakat, das um neue Gewerkschaftsmitglieder warb, reichte eine Männerhand einen Schraubenschlüssel in eine andere Männerhand. Mehr eigenständige anarchistische Ästhetik vermochte ich nicht zu erkennen.Anwesend waren 17 Männer mittleren Alters mit schattigem oder feingeistigem Blick, und vier durchgehend schweigende Frauen. Ich musste immer wieder die beiden jungen Anarchosyndikalistinnen betrachten. Die eine war in Wanderkluft und hatte auf den Oberarm einen italienischen Espresso-Kocher tätowiert, auch ihre anderen Tattoos waren der Küchensphäre zuzuordnen. Die andere trug ein rotes, bauchfrei hochgebundenes T-Shirt und am Hals ein gürtelartiges Lederband mit abstehenden Stahlspitzen. Das Halsband war so eng, dass sich die junge Anarchistin immerzu ein wenig gewürgt fühlen musste. Die Fesseln, die der Anarchismus zu sprengen verspricht, hatte sie sich selbst angelegt.