„Demokratie in Afghanistan kann funktionieren“

Exil Mohibulla Samim war früher einmal Minister für Grenz- und Stammesfragen in Afghanistan. Der Politiker gibt dem Westen keine Schuld an der Rückkehr der Taliban. Warum nicht? Ein Besuch bei ihm in Saloniki
Ausgabe 01/2022
Viele Afghanen flüchten vor dem Taliban-Regime, soweit das möglich ist
Viele Afghanen flüchten vor dem Taliban-Regime, soweit das möglich ist

Foto: Byron Smith/Getty Images

Freitagabend in einem schäbigen Bürobau in Saloniki. Draußen ist der Verkehr zum Erliegen gekommen, drinnen werden Asylanträge für die USA und Kanada ausgedruckt. „Mit diesen Flüchtlingen ist alles anders“, sagt Dina Rokić, Chief Administrative Officer, eine beim Studium in Griechenland hängengebliebene Belgraderin. Um andere Migranten kümmert sich eine breit gefächerte Bürokratie, für die gut 300 im November evakuierten Angehörigen der afghanischen Elite ist allein Dinas NGO „Elpida Home“ zuständig. Darunter sind laut Rokić viele Parlamentarier und Richter, die sich gegenseitig des Versagens beschuldigen. Diese Afghanen sind in Saloniki, weil die griechische Regierung, der Pushbacks in der Ägäis vorgeworfen werden, auch einmal gut aussehen will. Die Verfahren laufen zügig, in zwei, drei Monaten könnten sie schon in ihren westlichen Zielländern leben.

Im Konferenzraum erwartet mich Mohibullah Samim, der ranghöchste Emigrant. Der freundliche Mittfünfziger im dunklen Anzug ohne Krawatte war zuletzt Minister für Grenz- und Stammesangelegenheiten. Ich will mit ihm über Europa reden. Er ist „seit 25 Tagen“ hier, zuvor hat er Europa nie betreten. Unverschleierte Frauen findet er „normal“, er sei früher schon in Dubai und Tadschikistan gewesen. Die Griechen seien liebenswürdig zu ihm. Viele Höflichkeiten und Danksagungen, als Flüchtling bleibe er nun auf den Westen angewiesen. Eine Mitschuld Europas an der Rückkehr der Taliban verneint er entschieden: „Die EU hat uns nur geholfen, ökonomisch, mit Menschenrechten, sogar mit Bautätigkeit. Verantwortlich waren das Volk und die Regierung.“ – „Hatten Sie korrupte Kollegen im Kabinett?“ – „Natürlich, es gab viel Korruption.“ – „Was war die Aufgabe eines Ministers für Stammesangelegenheiten?“ – „Ich war der Bote des Volkes in der Regierung.“ Er sei für alle Stämme zuständig gewesen. Umso mehr irritiert mich, dass der Paschtune wiederholt behauptet, Paschtunen würden 60 Prozent der afghanischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Alle verfügbaren Schätzungen sehen die Paschtunen bei 38 bis 42, maximal 50 Prozent. „Demokratie in Afghanistan“, so Samim, „kann trotz allem funktionieren – mit einem guten Management und einem guten Team.“

Weiter nach Deutschland

Der milde Winter in Saloniki sagt ihm zu. Er geht spazieren und, „da das Hotel keinen Fitnessraum hat, auch ein bisschen joggen“. Eine Moschee habe er leider noch keine gefunden. Er will im Exil ein Politiker bleiben, freilich ohne jede Aussicht auf Erfolg, wenn er einen Boykott Pakistans durch alle Staaten der Welt verlangt. Über die USA fällt kein kritisches Wort. US-Dienste, erzählt Rokić später, hätten diese Leute rausgeholt.

Nur drei der acht Kinder Samims sind in Saloniki. Seit dem Fall Kabuls im August war er in der Wohnung eines Sohnes versteckt, nun will er alle seine Kinder zu sich holen. 500.000 Afghanen seien unmittelbar gefährdet, Millionen würden hungern. Könnte er wählen, würde er nach Norwegen oder Deutschland gehen, weil er dort Verwandte habe und einer der sechs Schwiegersöhne dank seiner Arbeit für die Deutschen in Afghanistan wohl Aufnahme finden werde.

Das Interview sollte kurz sein, da ein Megastau draußen vor der Tür aber alle Abendpläne zunichte macht, rede ich unbegrenzt weiter mit dem afghanischen Ex-Minister. Samim antwortet zuletzt in einem Englisch, das nicht schlechter ist als das seines jungen afghanischen „Dolmetschers“, den er aus dem Hotel mitgebracht hat. Ich frage ihn nach der Pandemie. Das Wort „Lockdown“, höre ich heraus, sei auch ins Paschtunische eingegangen. Im Juli, also kurz vor dem Zusammenbruch seiner Regierung, wurde ein „50-Prozent-Lockdown“ verhängt – „in Großstädten mussten alle über 50 zu Hause bleiben“. Als ich ihm mit der Impffrage komme, die Europa gerade so heftig beschäftigt, schaut er mich ungläubig an. Impfen, sagt er, „das ist doch sehr notwendig, auch die Taliban erlauben es“. Selbst wenn er die jetzigen Machthaber über alle Maßen hasst, räumt er ein: Übers Impfen streitet Afghanistan nicht.

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