Auf immer verflucht

Bosnien Srebrenica erstickt in internationaler Hilfe und Wohltätigkeit. Die Zahl der Bewohner nimmt währenddessen weiter ab
Ausgabe 36/2021
Gedenkpark Srebrenica-Potočari: Balkanmuslimische Familien kommen hierher, fahren aber nicht in die Stadt hinein
Gedenkpark Srebrenica-Potočari: Balkanmuslimische Familien kommen hierher, fahren aber nicht in die Stadt hinein

Foto: Adam Guz/Getty Images

Ende Juli spazierte ich durch Srebrenica. Eine Woche vor dem Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit hatte Valentin Inzko, Hoher Bevollmächtigter der UNO in Bosnien, kraft seiner diktatorischen Vollmachten ein Gesetz erlassen. Danach sollte die Leugnung eines Genozids in Srebrenica mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Die Reaktionen waren erwartbar: Der Eingriff wurde nicht nur von serbischer, sondern auch von kroatischer Seite abgelehnt. Der zuvor politisch schwächelnde Frontmann der Bosnien-Serben, Milorad Dodik, konnte sich profilieren und forderte die Justiz umgehend mit dem Satz heraus: „Es gibt eine Wahrheit – da war kein Genozid.“

Ich kontaktierte meinen österreichischen Landsmann Inzko, der nebenbei auch die slowenische Minderheit in Kärnten führt. Der Diplomat und Slawist berief sich auf die „einstimmig von den EU-Staaten verabschiedete Council Framework Decision 2008/913/JHA vom 28. November 2008“. Auf die Frage, ob er Bosnien nicht einen Bärendienst geleistet habe, schrieb er mir: „Das Gesetz wurde mehr als zehn Jahre lang wiederholt im dortigen Parlament vorgelegt, aber niemals angenommen. In der Zwischenzeit hat die Glorifizierung der Kriegsverbrecher zugenommen. Ein letzter Versuch, Auszeichnungen an rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher zu annullieren, wurde von meiner Seite in einem Schreiben vom 27.1.2021 unternommen. Statt die Auszeichnungen zu annullieren, wurden diese bestätigt. Schließlich wurde Ratko Mladić am 8. Juni 2021 rechtskräftig verurteilt. Die Zeit war reif für Änderungen des Strafgesetzbuches. Die Reaktionen waren vorauszusehen, aber ich handelte strikt nach meinem Gewissen.“

Ich hielt zunächst im Vorort Potočari. Der Gedenkpark aus weißen Grabstelen hatte sich seit meinem ersten Besuch weiter professionalisiert. Die Einträge im Gästebuch reichten bis Juni zurück, der Begriff Genozid tauchte nicht auf. Es gab einen Kopftuchverleih und das Gebet auf Teppichen unter dem Dach am Eingang. Der Parkplatz war voll, balkanmuslimische Familien kamen und gingen.

Nach Srebrenica fuhren sie alle nicht herein. Der Stadtkern liegt in einem engen Talkessel. Ein Hangweg zur orthodoxen Kirche herauf endet im Dickicht, eine Treppe von der Kirche herunter in ungepflückten Brombeeren. Ein Zettel an einem Laternenpfahl verkündete „wegen der klimatischen Lage“ Einschränkungen der nächtlichen Wasserversorgung, die Zeitungen beschäftigte der Besuch Recep Tayyip Erdoğans in Sarajevo. Er hatte für Jasmina aus der Staatsgründer-Dynastie Izetbegović den Trauzeugen gegeben. So wie Serbien und Kroatien als Schutzmächte ihrer Volksgruppen auftreten, sucht die Türkei diese Rolle für die Bosniaken auszufüllen. Das Städtchen mit dem auf immer verfluchten Namen wird heute zu fast gleichen Teilen von Bosniaken und Serben bewohnt, der gewählte Bürgermeister ist ein gegen die „Farce von Den Haag“ agitierender Serbe. Die Bewohner wollte ich dazu nicht befragen, die Antworten wären allzu erwartbar gewesen. Wenigstens war da in einem leeren Restaurant mit Zwiebelhaufen auf den Ćevapčići ein zahnloser Koch-Kellner. Er pries die europaweite Verbreitung des serbischen Mineralwassers Vodavoda und behauptete mit leichter Übertreibung: „Hier haben 23.000 gelebt, jetzt sind es 800.“ Er zeigte zur Decke: „Das ist Politik.“

Mein Eindruck beim Spazierengehen war, dass Srebrenica in internationalen Hilfswerken erstickt. Das Gedenkprogramm zum 26. Jahrestag des Massakers hatte über hundert Veranstaltungen umfasst. Ich sah: eine Touristeninformation (getragen von den Niederlanden), das „Srebrenica Wave Festival“ (Deutschland), ein „Haus der guten Töne“ (Europahaus, Bauern helfen Bauern – Salzburg, Catholic Relief Service), die „Förderung von Medien- und Informations-Alphabetisierung“ (EU), eine „Internationale Begegnungswoche“ (u. a. Post-Conflict Research Center).

Einschusslöcher, nie verputzt

Die OSZE nutzte zwei große Neubauten, einer beherbergte ein „Zentrum für Information und Bereitstellung von Rechtshilfe“. Angesichts der Abwesenheit von Bewohnern nahm sich das plakatierte Geistes- und Kulturleben geradezu monströs aus, nur merkte ich nichts davon. Ein paar Polizisten der Republika Srpska saßen in den Cafés herum. Im Venera wurde das „Red Bull Cliff Diving“ von der historischen Steinbrücke in Mostar übertragen. In der Musikbar 42 standen die Jungs Darts schießend und Mädchen saßen dabei, eine mit violett verkrüppelter Mundpartie, eine andere mit rosa Kranz aus Kunststoffblümchen im Haar.

Länger als die Menschen schaute ich die Häuser von Srebrenica an. Bosnien-Fahrer kennen die nie bezogenen Ziegelrohbauten, deren Öffnungen mit Steinen, Brettern, Strohwürfeln und Lagermaterial zugestopft sind. Es gibt bewohnte Häuser mit aus Prinzip oder Armut nie verputzten Einschusslöchern; dazu Ruinen, verkohlt oder an die Natur zurückgefallen. Und es fällt auf, wie die verschiedenen Nachkriegsbaustile ineinandergreifen. Da pfeift der Wind durch die nackten Etagen eines Zinshauses, mittendrin hocken aber heimelig anzusehende Wohnkobel. Ich dachte, man sollte im Winter wiederkommen, wenn es aus 800 Ofenrohren raucht.

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