Auf Posten im Osten

Ostwind Kolumne

Ab 21. Dezember 2007 wird das Schengen-Abkommen zur Grenzkontrolle zwischen der Europäischen Union und so genannten Drittstaaten für alle Mitgliedsländer der EU (mit Ausnahme Bulgariens, Irlands, Rumäniens, Großbritanniens und Zyperns) gültig sein. Folglich rückt die Außengrenze der Union weiter nach Osten. Die Schengengrenze bewachen dann Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei und Ungarn. Und das österreichische Bundesheer kann sich getrost aus dem vordersten Graben zurückziehen. Tut es aber nicht, wie Martin Leidenfrost bei einem Truppenbesuch feststellen musste.

Im Herbst habe ich einen Tag unter Soldaten verbracht. Beim "Assistenzeinsatz" des österreichischen Bundesheeres, an der Ostgrenze, die nur noch bis 21. Dezember Schengengrenze ist. Ich habe eine der letzten Gelegenheiten genutzt.

Unter westlichen Demokratien ist es nicht üblich, die Armee in Friedenszeiten an die Grenze zu stellen. In Deutschland wäre ein derartiger Einsatz der Bundeswehr untersagt, in Österreich aber hat der Assistenzeinsatz das Ansehen des Bundesheeres gemehrt.

Etwa 340.000 Soldaten waren zwischen 1990 und 2007 an der ungarischen und slowakischen Grenze stationiert, großteils Rekruten zwischen 18 und 20 Jahren, aus allen Bundesländern. Was der Ministerrat in Wien zunächst als Provisorium für zehn Wochen beschloss, hat mehr als 17 Jahre gedauert und eine ganze Generation geprägt. 340.000 Soldaten, das bedeutet fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Jeder Österreicher kennt mehrere Jungs, die dran gekommen sind. Und noch ist es nicht vorbei. Unterstützt von den christdemokratischen und sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Bundesländer Niederösterreich und Burgenland, hat die derzeit in Wien regierende große Koalition aus ÖVP und SPÖ ein besonderes Schelmenstück vor: Auch nachdem die Schengengrenze vom Ostrand Österreichs abrückt, wird der Assistenzeinsatz weitergeführt. "Wir werden dann 1.500 Mann haben, die ihre Beobachtungen an die Exekutive weiterleiten", erklärte der sozialdemokratische Verteidigungsminister Norbert Darabos, ein Burgenländer und ehemaliger Zivildiener. "Das ist wichtig, weil wir in einer so genannten Phasing-out-Phase die Sicherheit der Burgenländer gewährleisten wollen."

Debattiert wurde diese Maßnahme in der österreichischen Öffentlichkeit nicht. Die neuen Schengenmitglieder Ungarn und Slowakei, die an ihren Ostgrenzen mit massiven Mitteln einen neuen Eisernen Vorhang hochgezogen haben, sind vor den Kopf gestoßen, aber die österreichische Bevölkerung hat sich an den Assistenzeinsatz gewöhnt. Der Assistenzeinsatz beruhigt.

Etwa 20 Rekruten haben sich im Einsatz umgebracht

Also werden auch weiterhin uniformierte Teenager Wache schieben, vermutlich bis September 2008. Sie werden niemanden mehr kontrollieren dürfen. Sie werden niemanden mehr aufhalten dürfen. Sie werden mitten durch den Schengenraum spazieren, und wenn ihnen etwas verdächtig erscheint, werden sie die Polizei anrufen dürfen.

An jenem kalten Herbsttag hat mich Oberst Sepp Erhard geführt. Der 61-Jährige stammt aus Lunz am See, einem Dorf der niederösterreichischen Voralpen, das sich des Rekords rühmt, der "Kältepol Mitteleuropas" zu sein. Erhard besaß die raue Herzlichkeit eines abgeklärten Haudegens. Er hat sicherlich sofort gespürt, dass ich nicht gedient habe, war aber höflich genug, nicht zu fragen.

Den Einsatz beschrieb er mir als "Katz-und-Maus-Spiel" mit Schleppern, welche die Grenze nach Weltregionen aufgeteilt hätten. Wo wir unterwegs waren, zwischen den Orten Wolfsthal und Kittsee, war "Ex-Sowjetunion", von einem jungen Offizier "Rest-Russland" genannt. Weiter nördlich, den österreichisch-slowakischen Grenzfluss March hinauf, lag "Pakistan". Die Geschleppten seien oft vollkommen orientierungslos, hat Erhard erzählt. "Der Schlepper zeigt auf die beleuchtete Kirche von Deutsch-Jahrndorf und sagt ihnen, das ist der Kölner Dom. Geht dort hin, dann seid ihr in Deutschland!"

Der Oberst sprach offen aus, was das erste Ziel des Assistenzeinsatzes war - dem Staat Geld zu ersparen. Interne Berechnungen hatten ergeben: Was die jeweils 2.000 Rekruten in ihrem jeweils sechswöchigen Turnus gekostet haben, dafür hätte man einen Grenzpolizisten gerade einmal drei oder vier Tage gekriegt. 156 Soldaten-Trupps bei Tag, 312 Soldaten-Trupps bei Nacht, auf der Länge von circa 470 Kilometern Schengengrenze, die in 17 Jahren mehr als 90.000 "Illegale" aufgegriffen haben - die Republik Österreich hat sich einen Haufen Geld erspart.

Im Kompaniegefechtsstand Kittsee, einer umgebauten Firmenhalle, war ich Gast einer Kärntner Kompanie. Es gab Kaffee und Kuchen, ich saß in einer Runde hoher Offiziere und schnitt das empfindlichste Thema an. Etwa 20 Rekruten haben sich im Assistenzeinsatz umgebracht.

Einer ist ein Feigling - zwei sind Helden

Ich habe die Offiziere gefragt, ob sie es für verantwortbar halten, Teenager der Angst, der Langeweile und dem Elend der Schengengrenze auszusetzen, nach drei Monaten Ausbildung und vorwiegend bei Nacht. Ja, hat der sportliche Bataillonskommandant gesagt. Ja, hat der junge Militärpfarrer gesagt. Ja, hat mein Oberst gesagt und hinzu gefügt, dass er die Untersuchungskommission bei 18 Todesfällen geleitet hat. "Kein einziger Todesfall stand in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Assistenzeinsatz an der Grenze. Das traue ich mich zu sagen."

Auf die Frage nach der Angst erhielt ich stets die Antwort, dass die Rekruten zu zweit hinausgeschickt werden, und fand mich mit dem passenden Spruch bedacht: "Einer ist ein Feigling, zwei sind Helden." Als mich der Oberst zu einem Trupp fuhr, habe ich von unerwarteter Seite erfahren, wie Angst aussieht. Der Rekrut, der dem Oberst Meldung machen sollte, war von dem hohen Dienstgrad dermaßen eingeschüchtert, dass er kaum ein Wort herausbrachte, eine quälende halbe Minute lang.

Für die Nacht hatte ich gebeten, eine typische Nachtwache erleben zu dürfen, so still wie sie ist. Der Oberst war über meinen Wunsch ein wenig amüsiert, aber er war die ganzen 17 Jahre an der Grenze, er hat schon deutsche, amerikanische und australische Fernsehteams geführt. Er hat sich wohl gesagt, den drücke ich auch noch durch.

Wir wurden über matschige Feldwege zu einem Postenstand gebracht und setzten uns hinauf. Die Nacht war bewölkt, die nahe Großstadt Bratislava warf etwas Helligkeit auf das slowakische Maisfeld und den österreichischen Acker.

Nach sieben Stunden Gespräch hatten wir nichts mehr zu reden. Die Zeit verging langsam. Im Ofen brannte Feuer, der Oberst hat Briketts nachgelegt und müde geraucht. Zeitgleich mit dem Verschwinden der Schengengrenze geht er in Rente. Die Arbeit ist getan. Die Erinnerung von 340.000 Österreichern bleibt.

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