Die Kaukasus-Front: Südossetien in Ukraine-Krieg an der Seite Russlands

Georgien Die Wege nach Südossetien sind versperrt. Dessen Soldaten kämpfen in der Ukraine für Russland – manche sind aber schon zurück
Ausgabe 21/2022
Ein georgischer Grenzsoldat reicht Essen zu einem Bauer, der auf dem Territorium des von Russland kontrollierten Südossetiens steht
Ein georgischer Grenzsoldat reicht Essen zu einem Bauer, der auf dem Territorium des von Russland kontrollierten Südossetiens steht

Foto: Daro Sulakauri/Getty Images

Georgier und Osseten führen seit mehr als 100 Jahren Krieg: 1918 bis 1921 starben viele Tausende, 1990 bis 1992 noch einmal Tausende und 2008, als Russland bei einem Feldzug zum Schutz seiner Bürger im angegriffenen Südossetien tief nach Georgien vorstieß, viele Hunderte. Mit dem Ukraine-Krieg droht die Kaukasus-Front wieder aufzubrechen. Zum einen kündigte Anatoli Bibilow, der allerdings bereits abgewählte Präsident Südossetiens, für Juli eine Abstimmung über den Anschluss an Russland an. Zum anderen ist die eingeigelte Bergregion nun schlechter geschützt – Südossetien hat nämlich Truppen in der Ukraine.

Die Südosseten – traditionell als tapfere Krieger gerühmt – stimmen dem Einsatz an der Seite Russlands durchaus nicht ausnahmslos zu. 300 Zeitsoldaten kehrten Ende März zurück und erklärten Bibilow, warum sie den Dienst nach elf Tagen vorläufig quittiert hatten: ahnungslose russische Kommandanten, falsche Koordinaten, fehlende Munition, unbrauchbare Mörser. Man habe sie ausgelacht: „Ihr seid was? Selbstmordattentäter?“

Um Mitternacht steige ich in Stalins Geburtsstadt Gori in Zentralgeorgien ab, in einem Familien-Hostel mit friedensfrommen Wandmalereien. Die Gastgeberin Swetlana, eine pensionierte Ärztin, ist Nordossetin. Sie hat drei Kriege erlebt, den von 2008 fand sie harmlos: „Die georgischen Soldaten flohen, die russischen rührten niemanden an und trieben Tauschhandel mit uns.“ Norwegische Minenräumer hätten gesagt: „Ihr hattet drei Tage Krieg, die Minen entschärfen wir aber schon das fünfte Jahr.“ Swetlana schätzt den Kampfgeist der Georgier als schwach ein, „die Ukrainer sind da ganz anders, siehe der Maidan 2014.“ Zwar demonstriere die Opposition für Georgiens Kriegseintritt, mehr Georgier würden sich freilich nach einer Aufhebung der Visapflicht für Russland sehnen.

Ich fahre im Kleinbus zur südossetischen Grenze. Die Straße über die Hochebene ist neu, alle 20 Meter eine Straßenlaterne, ein Alptraum für etwaige Militärkonvois. In einem Dorf steigen schwarze Witwen ein und verschwinden bald darauf zwischen frischgrünen Obstbäumen. Vor mir liegen der schneebedeckte Kaukasus und die Wohnblöcke der südossetischen Hauptstadt Zchinwali. Deren Vorort Ergneti ist das letzte georgische Dorf und die Endstation. Drei Gänse schlürfen aus einem Steinbecken, und ein pummeliger Teenager bestätigt: „Das ist das Zentrum.“ Ich begleite ihn zur Schule, 50 Dorfkinder lernen hier, nur er pendelt aus Gori, kommt aber Stunden zu spät. Probleme erwartet er nicht, gefährlich findet er Ergneti nicht. Vor der Schule stehen Backfische und feixen.

Bei Stalins Tod wurde geweint

Beim Versuch, mir den nicht erkennbaren Tante-Emma-Laden zu zeigen, stolpert ein Senior über die Abflussrinne. Er behauptet, die russischen Truppen seien 2008 gewaltlos durch Ergneti gezogen, jetzt fürchte er einen richtigen Krieg: „Wenn die Russen in der Ukraine fertig sind, nehmen sie uns dran.“ Eine SMS geht ein, der russische Betreiber MegaFon begrüßt mich in seinem Netz. Theimuras, der Inhaber des unsichtbaren Pop-up-Ladens, ist ein strammer 80-Jähriger. Er lädt mich in seinen überdachten Vorhof ein. 2008 – wie die meisten war er da schon evakuiert – hätten „sie ganz Ergneti abgefackelt. Nicht die Osseten, die Russen.“ Zwei Brandlöcher in seiner krummen Stahlbeton-Decke hat er als Andenken bewahrt, „Russen sind Schweine“. 1942 geboren, ging er in Zchinwali in die georgische Schule. Er stellt die gewagte Behauptung auf, dort hätten „nur vier oder fünf ossetische Familien“ gelebt. Es folgt ein faustgeballtes Lob auf Stalin. Gehungert habe unter ihm niemand, bei seinem Tod 1953 hätten sie „alle geweint“.

Ich wandere zum georgischen Grenzposten. Swetlana fuhr hier früher durch, wenn sie ihre Familie in Nordossetien besuchte. Seit 2008 ist die Grenze dicht. Bunkerähnliche Objekte sind mit dichten Tarnnetzen behängt. Außer dem Roten Kreuz kommt keiner durch. Ich stelle für die Grenzer eine willkommene Zerstreuung dar, meine Papiere fotografieren sie vier Mal. Er dürfe nichts sagen, bedauert der redselige Posten Swiad, meint dann aber, das kleine Georgien könnte dem „bis an die Zähne bewaffneten Gegner“ wohl kaum standhalten. Es habe jedoch seit dem 24. Februar hier, „an der Okkupationslinie“, keinen einzigen Vorfall gegeben.

So wirkt Ergneti entspannt, fast fahrlässig entspannt? Im abgestellten Kleinbus steckt der Schlüssel, manchmal rollt er ein Stück, immer wieder ausgelassenes Lachen. Zurück nach Gori nimmt das Gefährt auch vier Lehrerinnen mit, schmuckbehängte, blondierte Tanten wie frisch geföhnt. Bald treten auch die schwarzen Witwen wieder zwischen den grünen Obstbäumen hervor und fahren in ihr Dorf.

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