In der südmoldawischen Steppe liegt das sehr kleine und sehr arme Autonomiegebiet Gagausien. 84 Prozent der 134.000 Einwohner sind Gagausen. Drei Vektoren zeigen aus Gagausien in den Rest der Welt: Da sie russisch-orthodoxe Sowjetmenschen sind, lieben und verstehen die Gaugasen Wladimir Putin. Da Gagausisch eine eng mit dem Türkischen verwandte Turksprache ist, lieben und verstehen sie Recep Tayyip Erdoğan. Schließlich, da sie als Bestandteil Moldawiens mit der EU assoziiert sind, lieben und verstehen sie die EU zwar nicht, müssen sich aber immer wieder kleine EU-Förderungen gefallen lassen.
Das direkt gewählte Oberhaupt Gagausiens heißt „Baschkan“, und eigentlich ist gerade Wahlkampf. Spannend erscheint dabei nicht, ob die Baschkanin Irina Vlah am 30. Juni wiedergewählt wird. Obwohl sie nicht einmal in Gagausien lebt, sondern aus der 100 Kilometer entfernten moldawischen Hauptstadt Kischinau einpendelt, ist Vlah konkurrenzlos beliebt. Sie nutzt den Haushalt des Autonomiegebiets, der noch nie mehr als umgerechnet 50 Millionen Euro betrug, um Bürgern auf individueller Basis zu helfen, etwa wenn sich ein Großmütterchen die Reparatur ihres tropfenden Dachs nicht mehr leisten kann. An Weihnachten bekamen alle gagausischen Senioren Blutdruckmessgeräte.
Spannend war bis letzten Freitag nur, ob die Justiz des moldawischen Selbstherrschers Vlad Plahotniuc die Wiederwahl der Baschkanin etwa vereiteln würde. Der Oligarch Plahotniuc, Chef der bei Wahlen niemals siegreichen Demokratischen Partei, hatte schon in der Legislaturperiode 2015 bis 2019 alle Macht an sich gerissen: Er ließ kompromittierende Videos drehen, buchtete seinen Koalitionspartner Vlad Filat ein und zerschlug seinem zweiten Partner Wladimir Woronin die Partei; mit Erpressung bekam Plahotniuc eine satte Parlamentsmehrheit zusammen.
Auch die sozialistische Baschkanin Irina Vlah wurde erpresst. Mit ihrem Bruder, der enorme Steuerschulden angehäuft hat, dreht sie ein großes Rad im Getreide- und Saatguthandel, sodass diverses Belastungsmaterial in den Schubladen von Plahotniucs Anwälten liegt. Ihr Vorgänger Michail Formuzal, der mich einst um neun am Morgen mit Cognac beglückte, lebt seit einem angeblichen Brandanschlag im deutschen Exil.
Zuletzt überspannte Plahotniuc den Bogen, er griff zum Mittel eines unverhüllten Staatsstreichs. Auslöser war die überraschende Bildung einer Anti-Plahotniuc-Regierung, einer Allianz des prowestlichen Bündnisses ACUM mit der prorussischen Sozialistischen Partei des Präsidenten Igor Dodon. Die neue Regierung fand die Unterstützung sowohl der USA und EU als auch von Russland. Ein Kommentator schrieb: „Plahotniuc ist das Unmögliche gelungen, er hat Amerika und Russland versöhnt.“ Umgehend setzte das von Plahotniuc kontrollierte Verfassungsgericht die neue Regierung und den Präsidenten ab, Plahotniucs Leute kehrten in die Ministerien zurück, die nun von sportlichen Kerlen in sportlicher Kleidung gehütet wurden.
Disneyland auf dem Dorf
Dieses Regime währte allerdings nur sechs Tage. Letzten Freitag, nach einem viertelstündigen Gespräch mit dem US-Botschafter, gab Plahotniuc auf. Die neue Versöhnungsregierung ist seither im Amt, und Plahotniuc flog in seinem Privatjet zu einem bislang unbekannten Ort.
Mit einer gerichtlichen Absetzung der Baschkanin ist vorläufig also nicht zu rechnen. Und damit kommen wir zu den drei Vektoren der gagausischen Außenpolitik. Vektor 1: Das geliebte Russland investiert kaum in Gagausien. Die Flexitanks gagausischen Weins gehen eher nach Weißrussland, doch ohne ihre vielen Fotos mit Putin wäre die Baschkanin nie Baschkanin geworden. Ich fahre ins „reichste gagausische Dorf“. Aus Avdarma stammt der Miteigentümer von „Sheriff“, des Monopolkonzerns der prorussischen moldawischen Abspaltung Transnistrien. Er hat Avdarma ein metallic-byzantinisches Disneyland geschenkt. Ich komme Freitagabend, als auf dem Riesenscreen des Riesenrestaurants Bilder von asiatischen Wolkenkratzer-Skylines laufen, ansonsten tote Hose. Ich kann nicht erkennen, was das Dorf vom Investment hat.
Vektor 2: Die geliebte Türkei investiert, aber sinnlos. In der Aula des gagausischen Regierungssitzes steht das Modell der Schule, die Erdoğan der gagausischen Hauptstadt Comrat schenken will. Sie sieht aus wie ein kleiner Ableger seines Präsidentenpalastes in Ankara. Böse Zungen sagen: „Da will er einziehen, wenn ihn die Türken vertreiben.“ Obwohl ihnen Erdoğan eine Jobgarantie gibt, sind von den Hunderten türkischen Studenten kaum welche übrig. Die Kleinstadt Comrat ist einfach zu langweilig, das Niveau der gagausischen Uni einfach zu mies.
Altgagausische Ofenbänke
Vektor 3: Die EU, sie investiert durchaus in Gagausien. Da ist etwa die sowjetschöne Berufsschule im Dorf Svetlyj, dem einst bessarabiendeutschen Neu-Dennewitz. Der Direktor ist Deutschlehrer und rührend um Kooperationen mit dem deutschen Sprachraum bemüht. Er zeigt mir ein von Österreich bezahltes Klassenzimmer. Ein paar Computer, es duftet nach Vollholz, hier spielen die Schüler das Gründen von Firmen durch, die sie „CoffeeShop“ oder „MagicShine“ nennen. Ich sehe das Video eines Sketches aus der Deutschstunde. Darin sagt ein lernender Schüler: „Salzburg ist die Hauptstadt von Salzburg.“ Seine strickende Oma schlägt ihn für diese offensichtliche Dummheit auf den Kopf. Ich gebe nach der Züchtigung warnend zu bedenken, dass sich die Erziehungsmethoden in Österreich geändert haben.
In Comrat führt man mich ins Loft-Büro einer neuen Internet-Reklame-Firma. Der Chef, Sohn eines gagausischen Bauunternehmers, hatte schon mit 17 einen 20-Leute-Betrieb in Odessa und hat mit Partnern eine Firma in Berlin. Jetzt ist er 23 und betreibt einen aufstrebenden gagausischen Nachrichten-Blog. Mit russischen Kunden arbeitet der adrette Junge nicht, die seien anstrengend, der türkische Markt interessiert ihn jedoch. Da er dauernd Businessplan-Anglizismen in sein Russisch mischt und von „europäischen Standards“ spricht, frage ich ihn: „Aber sind die Gagausen nicht leidenschaftlich prorussisch?“ – „Nur die Alten, nur 30 plus“, lautet die Antwort. Ich, 46, starre ihn an. Die jungen Gagausen, sagt er, seien pragmatisch.
Lange investierte die EU sehr diskret, weshalb Gagausen oft Putin für den wahren Gönner hielten. Eine EU-Success-Story jedenfalls ist die Anschubförderung für die Patisserie „Augusto“. Genau das hat mir immer gefehlt, dank Brüssel kriegt man jetzt backfrische Croissants in Comrat. Congaz wiederum, „das größte Dorf Europas“, verdankt der Europäischen Union eine Pension im altgagausischen Stil. Daneben steht die gewaltige dreistöckige Wohnburg der Besitzerin – diese soll laut bösen Zungen die Witwe eines Banditen sein, „der einem Arbeitsunfall erlag“ (er wurde erschossen).
Immerhin kann man auf den altgagausischen Ofenbänken der Pension übernachten, während der sultanbarocke Kindergarten leer steht, den Präsident Erdoğan vor Monaten eröffnet hat. Er liegt einige Kilometer außerhalb von Comrat im dortigen Industriegebiet, und niemand weiß, wie man die Kinder dorthin bringen soll. So geht der Wettlauf um die Gunst der Gagausen weiter. Ich bin optimistisch. Wenn die EU noch 50 bis 100 Jahre löhnt, beginnen uns die Gagausen gewiss zu lieben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.