Bei der größten Piratin

Island Birgitta Jónsdóttir sieht ihr Land als sicheren Hafen für Whistleblower und Investigativjournalisten
Ausgabe 33/2020
Die ehemalige Politikerin der isländischen Piratenpartei, Birgitta Jónsdóttir
Die ehemalige Politikerin der isländischen Piratenpartei, Birgitta Jónsdóttir

Foto: Halldor Kolbeins/AFP/Getty Images

Sie ist Poetin, Aktivistin, Anarchistin, produzierte mit Julian Assange in Island das Wikileaks-Irak-Video „Collateral Murder“ und wurde eine Weile als künftige Premierministerin Islands gehandelt. Mit ihrem International Modern Media Institute (IMMI) stieß sie eine Gesetzgebung an, welche die kühle Insel mit den gigantischen Serverfarmen zu einem sicheren Hafen für die Daten von Whistleblowern und Investigativjournalisten aus aller Welt machen soll. Birgitta Jónsdóttir (53), oft in Schwarz gekleidet, blickt auf ein Leben wie aus einer Gothic Novel zurück: Ihr Adoptivvater brachte sich um, indem er während eines Sturms in den eisigen Fluss stieg. Ihr erster Mann starb ähnlich. Sie sagt: „Meine ganze Familie ist ohnehin tot.“

Jónsdóttir empfängt mich außerhalb Reykjavíks in der hohen Lobby eines fast leeren Grandhotels. Da in Island kein Mundschutz getragen wird, blickt man mich mit meiner FFP2 bestürzt an, der Barmann bedient uns nicht. Birgitta, 2009 bis 2017 Abgeordnete der isländischen Piraten und seither ohne jeden Kontakt zur „toxischen Umgebung“ Politik, ist Asthmatikerin. Auf „die verfickte Pandemie“ reagiert sie ziemlich panisch. Obwohl Island alle Einreisenden testet, wirft sie der Regierung vor: „Die machen für alle auf.“

„Performing Poet“ Birgitta Jónsdóttir nutzte als Erste das Internet für ihre Literatur, ihren „einzigen Preis“ bekam sie 1996 als Web-Entwicklerin. Sie lebte jeweils ein Jahr in den USA, Australien, Neuseeland, Norwegen, Dänemark, Schweden, spricht alle skandinavischen Sprachen. Sie geht seit jeher auf die Barrikaden, etwa gegen die Errichtung verschmutzender Aluschmelzen oder gegen die betrügerischen Akteure der Finanzkrise. Acht Jahre rang sie mit dem isländischen Namenskomitee darum, ihren 1991 geborenen Sohn „Neptunus“ nennen zu dürfen, später stritt sie gegen die Fehldiagnose ihres autistischen Sohnes „Delphin“. Sie klagte auch die Obama-Regierung wegen der unbegrenzten Inhaftierung von Terrorverdächtigen an. „Ich habe das System wegen blöder Sachen bekämpft. Ich werde auch weiterhin gegen jeden kämpfen, der unethische Dinge tut.“

2015/16, als sie die Umfragen anführte, blickten plötzlich viele Isländer „wie zu einer Patentante zu mir auf“. Das Wahlergebnis war ernüchternd, von einem Rejkjavíker Nerd-Verein ohne Strukturen wollten viele Isländer dann doch nicht regiert werden. „Da waren sie pragmatisch“, sagt Birgitta, heute ohne Bedauern.

Nun sucht sie einen Job

Eine historische Leistung hat sie dennoch vollbracht. IMMI – „Das sind eigentlich nur ich und mein Keller“ – ist auch dank der linksgrünen Ministerpräsidentin seit einigen Monaten durch. Zwar wird Birgittas „Name im Whistleblower-Gesetz nicht einmal erwähnt, aber da scheiß ich ehrlich gesagt drauf“. Alle von ihr vorgeschlagenen Gesetze seien beschlossen, „mit Ausnahme der Vorratsdatenspeicherung, dem stand eine EU-Richtlinie entgegen, die Island als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) übernehmen musste“. Island ist nun ein „guter, wenn auch nicht hundertprozentiger Schutzschild“. Alles hat sein Gutes, hält sie fest, nach der Finanzkrise trampelten eine Zeit lang keine „Touristen-Fischköpfe“ durch. Nach der Corona-Krise, so Birgitta, sollte man auf der Homeoffice-Erfahrung aufbauen, sodass weniger Büros und Straßen gebraucht würden. Zugleich rechnet sie mit „der größten Depression“ und, verschärft durch den Klimawandel, „mit allen Arten von Mangel“. Zu Assange will sie nicht mehr viel sagen, eingebuchtet tue er ihr leid. Mit seinem isländischen Nachfolger Kristinn Hrafnsson pflegt sie keinen Umgang.

Am Ende geht sie zurück in ihre nahe Wohnung. Mehr als diese besitzt sie nicht, in ihrer Zeit als Politikerin konnte sie etwas ansparen, dieses Geld ist nun aber aufgebraucht. Sie sucht einen Job. Politik wäre gut bezahlt, dort will sie aber nicht mehr hin, und Internet-Business stößt sie ab: „Die Bitcoin-Leute, die ich kennengelernt habe, waren wie Staubsaugerverkäufer.“

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden