Blut lecken für die Branche

Brüssel Der Artenreichtum des Lobbyismus in der EU-Zentrale ist ­atemberaubend

Ich stieg heiter in die Brüsseler Metro, plötzlich war meine Umhängetasche weg. Ich will nicht aufzählen, was sich alles in der Tasche befand, sonst weine ich, anstatt zu schreiben. Zu den Verlusten zählen die Notizen meiner Besuche bei Branchen-Lobbys. Die Grundbesitzer-Organisation, der Saatgut-Verband, die Maismüller, alles weg.

Lange schon blicke ich staunend auf den Artenreichtum des Brüsseler Lobbyismus. Das kiloschwere European Public Affairs Directory verzeichnet 3.500 Lobby-Einrichtungen mit insgesamt 7.000 Lobbyisten. Die Herausgeber räumen ein, dass es mit Sicherheit doppelt so viele gibt. Ein großer Teil dieser 15.000 hochkommunikativen Leute vertritt die Interessen von Branchen. Ich meldete mich bei einigen an.

Strafe genug

Ich begann beim Chemieverband CEFIC, dieser unterhält einen mehrflügeligen Gebäudekomplex im Süden Brüssels, mit 150 Mitarbeitern. Später klopfte ich bei kleineren Branchen an, beim Zement, beim Schnaps, bei den Privatwaggons, bei den Liftherstellern, bei den Molkeproduzenten. Jeder einzelne steht für Zehntausende Arbeitsplätze. Meiner Notizen beraubt, ohne Zahlen, Namen, Zitate, muss ich mich jetzt irgendwie an all diese Recherchen erinnern.

Ich fürchte, meinen Besuch der Grundbesitzer habe ich ganz vergessen. Ich hatte mir die European Landowners herrlich herrschaftlich vorgestellt, rural oder mondän, mit Kniehosen vielleicht, dann aber geleitete mich eine französische Juristin mittleren Alters in einen cleanen Konferenzraum. Sie gab mir freundlich Auskunft, ihre Reden von Nachhaltigkeit staubten mir allerdings schnell zum Ohr heraus. Ich wünsche dem Dieb meiner Umhängetasche keine Höllenqualen. Er soll nur die Mitschrift jenes Interviews von Anfang bis Ende lesen, das wäre Strafe genug.

Im Konferenzraum des Saatgut-Verbands streifte mich eine der großen Wertedebatten unserer Zeit. Der Generalsekretär von Euroseeds sprach mit auffälliger Zuneigung von „GMO“, von gentechnisch manipulierten Pflanzen. Er nannte es interessant, dass sich polnische Konservative und italienische Kommunisten in der Ablehnung von GMO einig seien, da schlage der katholische Hintergrund durch. Er selbst war ein blonder Deutscher, kantig, sehnig, flink, elegant. Er sagte, er habe schon vor Jahrzehnten in Brüssel „Blut geleckt“, stellte sich aber als Landwirt aus Niedersachsen vor. Sein Deutsch war von Anglizismen durchsetzt. Ich notierte eifrig Proben seines globalisierten Jargons. Daran kann sich jetzt nur ein Brüsseler Dieb erfreuen.

Eine geruchlose Hauptstadt

Der Verlust der Maismüller schmerzt mich am meisten. Die Generalsekretärin der Maize Millers hatte misstrauisch auf meine Bitte um ein Gespräch reagiert, sie lud mich erst nach Einlangen zahlreicher Beteuerungen ein. Die Süditalienerin, jung, hübsch und lebhaft, hatte eine Leidenschaft für Nahrung. Sie schwärmte von weißem Mais, von seinem Duft. In ihrem Büro hatte sie einen durchsichtigen Behälter stehen, darin befand sich Mais in unterschiedlichen Phasen des Mahlprozesses. Ich roch daran. Sie erklärte, dieser Mais sei zu alt, um zu duften. Sie hatte recht.

Die Italienerin war erst wenige Jahre in Brüssel. Sie beschrieb die Stadt ohne jegliche Schmeichelei: „Brüssel riecht nach nichts.“ Ich wandte ein, die Geruchlosigkeit treffe vielleicht nur auf das Europaviertel zu. Sie war sich aber sicher. Sie hatte in Kairo gelebt und sagte, auch die arabischen Ecken Brüssels röchen nach nichts. Nicht einmal nach Orient, einfach nach nichts.

Das war der Gedanke, der mir seither nicht aus dem Kopf geht. Eine geruchlose Hauptstadt von 500 Millionen? Dafür brauche ich, du lieber Dieb, mein Notizbuch nicht. Ich gehe jetzt viel unbeschwerter durch Brüssel, unbeschwert und schnüffelnd.

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