In der engen Buchara-Gasse von Samarkand steht das um einen kleinen Innenhof gebaute, von verschlungenem Klettergewächs gekühlte „Botanik-Hotel“. Den Gästen wird zu jeder Tages- und Nachtstunde Tee angeboten, dazu Teegebäck auf vielstöckigen Goldständern. Mitten auf dem Hof steht ein erhöhter orientalischer Tisch, an dem man nur liegend, kauernd oder im Schneidersitz verweilen kann. Laut dem Gastwirt wird dies als Sitzens am „Vier-Knie-Tisch“ bezeichnet. Jedenfalls werden in diesem Innenhof nachts globale Debatten durchgenommen. Und als ein Russe mit Braun- und Eisbär-Erfahrung das mitteleuropäische Aufregerthema anspricht – Problembären leben lassen oder abschießen? –, könnte man eine Stecknade
adel fallen hören. Der leichtfüßige Gastwirt heißt Farmon. Wie viele in Alt-Samarkand ist er Tadschike und hat die Physiognomie eines schlitzohrigen bayrischen Jungbauern, der sich und seine Gäste des Abends mit Wodka abfüllt. Sein eng dem Farsi verwandtes Tadschikisch erschließt ihm die iranische, sein Usbekisch die turksprachige, sein Russisch die russische Welt. Dazu zählen nicht nur die seit den westlichen Sanktionen vermehrt nach Samarkand strömenden Touristen aus Russland, sondern auch die Taxiruf-Telefonistinnen seiner Stadt, die „alle aus irgendeinem Grund hübsche Samarkander Russen-Mädchen sind“, so Farmon.Für den Rest der Welt kann der vierfache Vater etwas Englisch. Farmon fährt nirgendwohin, er war noch nicht einmal im 60 Kilometer entfernten Tadschikistan, die Welt kommt zu Farmon. In meiner anregendsten Botanik-Nacht bringt er folgende Personen am Vier-Knie-Tisch zusammen: einen gepflegten Radfahrer aus den französischen Alpen, der die Rentenproteste „verrückt“ nennt. Auf meine Frage: „Sind Sie Macronist?“, antwortet er: „Ich bin nichts“, und verschwindet mit einem falschen Grinsen. Weiter gibt es einen prowestlichen slowakischen Liberalen, der viel zu jung ist, um in der Schule noch Russisch gelernt zu haben, in Samarkand aber feststellt, dass er sich am leichtesten in seiner slawischen Muttersprache durchschlägt. Dann ein reifer indischer Gentleman, der Delhi als Hochburg des Vegetarianismus beschreibt und sich auf die Suche nach einem vegetarischen Restaurant begibt. Schließlich eine mit aristokratischer Grazie ausgestattete Partie laizistischer persischer Senioren, teils aus dem Iran, teils aus Schweden. Zudem hat Farmon einen besagten russischen Freund zu Besuch. Der zum Bud-dhismus konvertierte Pazifist nennt sich „Emigrant“, hat Russland mit dem Ukraine-Krieg verlassen und weist sich mit der Redewendung „bei uns in der Mahalla“ schon als Ur-Samarkander aus. Er hat als Geologe ganz Russland durchmessen, erwartet eine Machtübernahme durch Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und das Versinken des Landes in einem Bürgerkrieg. Immerhin habe sich seine Putin-treue Mutter neulich erstmals gefragt, „wofür eigentlich so viele von unseren Jungs sterben“. Der Mittdreißiger ist „linker Antiimperialist“: „Es gibt in Russland ganz viele, die so denken wie ich, es fehlt uns nur an Organisation.“Auch wenn er Putin die Hauptschuld am Krieg zuweist, äußert er Zweifel am westlichen Narrativ: „Profitiert Amerika nicht von diesem Krieg? Selenskyj vertraue ich nicht. Wieso befiehlt er, Bachmut mit einem so sinnlosen Blutzoll zu halten?“ In der Bärenfrage ist er frei von Zweifeln: Er habe als Geologe drei Waffen besessen und sei auf seinen Expeditionen gezwungen gewesen, einmal einen Braunbären und einmal einen Eisbären abzuschießen. „Das ging nicht anders, der Eisbär fiel unser Zelt an und biss meinen Kollegen, der bis heute bleibende Schäden hat. Ein solcher Bär musste einfach abgeschossen werden.“ Er lässt Fotos von den erlegten Tieren herumgehen. Als sich der Vegetarier aus Delhi hungrig schlafen legt, hat sich Farmon schon lange auf der Vier-Knie-Bank ausgestreckt. „Ja, in Usbekistan lieben wir Fleisch!“, ruft er gleichmütig und streckt seine Arme noch genießerischer aus.Farmon liegt oft so da, die ganze Geopolitik geht ihm bei einem Ohr rein und beim andern raus, nichts davon betrifft Samarkand. Der 2016 verstorbene usbekische Präsident Islom Karimov habe seine Sache seinerzeit gut gemacht. Jetzt mache es der Nachfolger wieder gut. „Auch Putin hat Russland vorangebracht.“ Zum Ukraine-Krieg äußert sich Farmon vorläufig nicht. Als wir anderen den Umgang mit Problembären diskutieren, lächelt er freundlich.