Am 19. August 1989 nutzten bekanntlich Hunderte DDR-Bürger ein „Paneuropäisches Picknick“ zur Flucht in den Westen. Das Jubiläum wurde nun im großen Stil gefeiert, was zu einem knisternden Gipfel zwischen Viktor Orbán und Angela Merkel, den Antipoden der EU-Migrationspolitik, führte. Obwohl das Picknick an einem Grenzübergang zwischen Ungarn und Österreich stattfand, war das offizielle Österreich abwesend, und abgesehen von einem moderierenden Buchautor war kaum ein Austria-Zungenschlag zu hören. Ich traf mehr Berliner als Ösis.
Am Samstag saß ich dann im hohen klassizistischen Liszt-Saal in Sopron und wollte hören, was die Überwinder der damaligen Systemgrenze vom heutigen Grenzzaun an Ungarns Südgrenze halten. Als Erste erzählte eine resolute weißhaarige Dame. Mária Filep kam aus Debrecen, aus dem 500 Kilometer entfernten „calvinistischen Rom“. Das Picknick wurde bei einem Besuch des damaligen EU-Abgeordneten Otto von Habsburg in Debrecen erdacht, es wurde in der Debrecener Kneipe „Kisdebrecen“ organisiert, das Logo stammte aus Debrecen. Und als nervöse Grenzer fragten, wer verantwortlich sei, bekamen sie zur Antwort – „die Leute aus Debrecen“. Es bleibt ein Rätsel, warum gerade – O-Ton Filep – „die Debrecener die Glocke der Freiheit an die Grenze brachten“. Weil sich damals 20.000 vor Ceaușescu geflohene Siebenbürger in Drebreczin aufhielten? Weil der Lärm des sowjetischen Militärairports so „unerträglich“ war?
Für die DDR-Flüchtlinge sprach Hermann Pfitzenreiter, ein Sohn Thüringer Großbauern, der lange schon „rübermachen“ wollte. „In nur drei Tagen von Thüringen durch das Tor der Freiheit nach Frankfurt am Main.“ Nach ihm sprach László Nagy. Der Soproner Mitbegründer des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) hatte das Grenzpicknick mitorganisiert, wegen einer Pressekonferenz in Sopron aber den überraschenden Durchbruch der DDR-Bürger verpasst. Als Nagy an die Grenze kam, „standen die Ostdeutschen auf der anderen Seite im Maisfeld“. Im Begleittext der Konferenz wurde behauptet, die Geflüchteten hätten der Sache noch nicht getraut, hätten sogar „eine Stasifalle“ für möglich gehalten.
Die blödeste Frage
Als Letzter sprach, vorgestellt als „Held, der keiner sein will“, Árpád Bella. Der am 19. August 1989 diensthabende Grenzoffizier konnte einerseits die berufliche Prägung nicht verleugnen, als er Ausnahmen von der bereits 1988 erfolgten Abschaffung des Schießbefehls „für qualifizierte Fälle“ aufzählte. Andererseits beschrieb er markig sein einstiges Dilemma: „Entweder nehme ich es auf mich, gegen die Meute anzugehen, oder ich lasse sie raus.“ Seine Vorgesetzten waren nicht erreichbar, und „am 19. August wusste keiner, was Moskau am 20. August sagt“. Er ließ die Meute raus. Am Ende blieb Zeit für eine einzige Publikumsfrage. Eine junge Italienerin stand auf, monierte fehlende Geschlechterparität auf dem Podium, lobte das Nichtvorkommen des Wortes „Nation“ während des Gesprächs und schimpfte auf den Zaun an Ungarns Südgrenze.
Nun mussten die 89er-Helden Farbe bekennen. Frau Filep, heute Naturschützerin, beschränkte sich auf ein Zitat aus der Wendezeit: „Die Staatsgrenzen sind nicht dazu da, die Bürger einzusperren, sondern sie zu beschützen.“ Ex-DDR-Bürger Pfitzenreiter rief: „Freiheit ist ein Recht für alle. Mauern sind keine Lösung.“ Demokrat Nagy ergänzte: „Mauern sind keine Lösung, aber als Zwischenlösung braucht man sie manchmal.“ Und der Ex-Grenzschützer Bella: „Freiheit ist nicht Freizügigkeit. Souveränität braucht auch Hilfsmittel, um sie zu schützen.“ Ich lauschte gebannt, welche Position im Saal mehr Zuspruch fand. Der Applaus war absolut gleich verteilt.
Nagy, der eigentlich „nicht mehr darüber reden wollte“, steigerte sich am Schluss noch in eine Tirade gegen die westliche Presse hinein. Die Journalistin einer „großen westlichen Zeitung“ habe ihn gefragt: „Haben Sie damals überprüft, ob die DDR-Flüchtlinge Terroristen sind?“ Das Interview habe sechs Stunden gedauert, fauchte Nagy, „aber das war die blödeste Frage, da habe ich sie rausgeschmissen“.
Kommentare 1
Keine Angst, dieses Europa wächst zusammen. Und nicht, weil es Verbindendes erfindet sondern weil es die Nichtigkeit des Trennenden entdeckt. Die Nichtigkeit des Trennenden entdecken kann man aber nur, wenn man es sich aus der Vergangenheit bewußt macht. Entdecken, daß es für ähnliche Probleme verschiedene Lösungen gibt und man eben nicht alles über den selben Kamm scheren kann.
Und so habe ich auch zur österreichisch-ungarischen, zur "Zonengrenze" eine eigene Beziehung. 99 Meter hinter meinem Haus verläuft die Staatsgrenze. Und im Supermarkt arbeitet slowakisches Personal, das aber in Österreich wohnt.
Doch nun zu Ungarn: Sommer 89 war ich - meine Zugemutete mußte arbeiten - mit ihrer Schwester in Ungarn einkaufen, bummeln, essen. Beim Rückweg nahmen wir von Györ 2 Mädels (die müßten jetzt so 50 sein...) aus Dresden mit. Zuerst Richtung Wien, dann kurz entschlossen bis zur Grenze bei Rajka. Die Namen weiß ich nicht mehr, aber sie hinterließen Eindruck. Nur fiel mir auf, daß die Unterhaltung etwas seltsam verlief. Nachher dann erst kam mir die Idee, daß das an meiner westlichen Überheblichkeit gelegen haben könnte.
Einige Wochen später mit der Meinigen in Ungarn. Beim Grenzübergang auf der Heimreise jede Menge abgestellter Trabis, im Fernsehen zu Hause die Bilder von Menschen, die liefen, sobald sie merkten, daß sie in Österreich waren. Und Tränen der Freude im Fernsehen. Und auch bei mir. "Als ich von Deutschland nach Deutschland..."
Dann kam der denkwürdige Novembertag, da übte ich mitten in der Nacht gerade meinen Text aus "Das Leben Hödlmosers". Und nebenbei lief das Radio. Beim ersten mal in den Nachrichten hatte ich es nicht richtig verstanden. Dann kam das "Das gilt ab sofort" und ich rannte zum Auto, den Zettel mit der Telephonnummern der beiden Mädels zu suchen. Der blieb aber verschwunden.
Und dann kam Mock, unser Außenminister und schnitt medienwirksam den Draht durch. Da habe ich bereits gelacht. In der Zwischenzeit war ich in dieses Haus an der Grenze gezogen und hatte auch das Nachbarhaus gekauft. Meine Frau vermietete dieses Nachbarhaus umgehend an Rumänen, Zigeuner aus Rumänien, Serben aus dem Kosovo etc. Alles Flüchtlinge innerhalb Europas. Und dann kam Arigona.
Wider alle und jede Vorschrift wurde deren Verbleib von den Medien erzwungen, was mich zum Nachdenken über Recht und Gesetz, über Demokratie, demokratische Beschlüsse, den Wert von Demokratie, wenn sich die Verwaltung nicht ans demokratisch beschlossene Gesetz hält ("Herrschaft des Unrechts...") brachte. Und auch zum Nachdenken über das, was seit 1989 aus uns geworden ist. Womit ich wieder bei meinen zwei Mädels aus Dresden wäre, die damals am Balaton Urlaub gemacht haben.
Ich möchte mich hier öffentlich für meine damalige Besserwessi-Überheblichkeit entschuldigen. Ich wußte es nicht besser. Aber seitdem die Erkenntnis reifte, kämpfe ich genau dagegen.
Als Trost für mich, eben weil zu meinem Europa Boris Johnson, Fidesz und Orban, Afd, Puigdemont, Merkel und Seehofer, Salvini genauso dazugehören wie Van der Bellen, Macron, Putin und Tusk habe ich immer wieder die Graphik aus Wikipedia über die CEDC. Sieht doch aus wie Österreich-Ungarn, oder? Genau das meine ich: Unterschiede bewußt machen und dann damit leben, sie konstruktiv einsetzen. Sich heute an die ungarische Grenze zu stellen und wieder eben genau den Besserwessi raushängen zu lassen ist sicher der falsche Weg. Das Wahlergebnis der AfD beweist es.
Morgen um diese Zeit werde ich in Triest an der Piazza d' Unita meinen Kaffee schlürfen. Vom Herrn Illy aus Ungarn. Und rundherum die selben Gebäude wie am Schwarzenbergplatz in Wien. Ums Eck, bei der Börse ist ein "Freistaat Triest" plakatiert und Karl VI. schaut zu. Das ist mein Europa, viel größer als das der Kleingeister von Sopron. Und es ist in mir.