Braucht man Mauern?

Ungarn Beim Paneuropa-Jubiläumspicknick steht Applaus gegen Applaus
Ausgabe 35/2019
Truppen an der stark geschützten serbisch-ungarischen Grenze
Truppen an der stark geschützten serbisch-ungarischen Grenze

Foto: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

Am 19. August 1989 nutzten bekanntlich Hunderte DDR-Bürger ein „Paneuropäisches Picknick“ zur Flucht in den Westen. Das Jubiläum wurde nun im großen Stil gefeiert, was zu einem knisternden Gipfel zwischen Viktor Orbán und Angela Merkel, den Antipoden der EU-Migrationspolitik, führte. Obwohl das Picknick an einem Grenzübergang zwischen Ungarn und Österreich stattfand, war das offizielle Österreich abwesend, und abgesehen von einem moderierenden Buchautor war kaum ein Austria-Zungenschlag zu hören. Ich traf mehr Berliner als Ösis.

Am Samstag saß ich dann im hohen klassizistischen Liszt-Saal in Sopron und wollte hören, was die Überwinder der damaligen Systemgrenze vom heutigen Grenzzaun an Ungarns Südgrenze halten. Als Erste erzählte eine resolute weißhaarige Dame. Mária Filep kam aus Debrecen, aus dem 500 Kilometer entfernten „calvinistischen Rom“. Das Picknick wurde bei einem Besuch des damaligen EU-Abgeordneten Otto von Habsburg in Debrecen erdacht, es wurde in der Debrecener Kneipe „Kisdebrecen“ organisiert, das Logo stammte aus Debrecen. Und als nervöse Grenzer fragten, wer verantwortlich sei, bekamen sie zur Antwort – „die Leute aus Debrecen“. Es bleibt ein Rätsel, warum gerade – O-Ton Filep – „die Debrecener die Glocke der Freiheit an die Grenze brachten“. Weil sich damals 20.000 vor Ceaușescu geflohene Siebenbürger in Drebreczin aufhielten? Weil der Lärm des sowjetischen Militärairports so „unerträglich“ war?

Für die DDR-Flüchtlinge sprach Hermann Pfitzenreiter, ein Sohn Thüringer Großbauern, der lange schon „rübermachen“ wollte. „In nur drei Tagen von Thüringen durch das Tor der Freiheit nach Frankfurt am Main.“ Nach ihm sprach László Nagy. Der Soproner Mitbegründer des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) hatte das Grenzpicknick mitorganisiert, wegen einer Pressekonferenz in Sopron aber den überraschenden Durchbruch der DDR-Bürger verpasst. Als Nagy an die Grenze kam, „standen die Ostdeutschen auf der anderen Seite im Maisfeld“. Im Begleittext der Konferenz wurde behauptet, die Geflüchteten hätten der Sache noch nicht getraut, hätten sogar „eine Stasifalle“ für möglich gehalten.

Die blödeste Frage

Als Letzter sprach, vorgestellt als „Held, der keiner sein will“, Árpád Bella. Der am 19. August 1989 diensthabende Grenzoffizier konnte einerseits die berufliche Prägung nicht verleugnen, als er Ausnahmen von der bereits 1988 erfolgten Abschaffung des Schießbefehls „für qualifizierte Fälle“ aufzählte. Andererseits beschrieb er markig sein einstiges Dilemma: „Entweder nehme ich es auf mich, gegen die Meute anzugehen, oder ich lasse sie raus.“ Seine Vorgesetzten waren nicht erreichbar, und „am 19. August wusste keiner, was Moskau am 20. August sagt“. Er ließ die Meute raus. Am Ende blieb Zeit für eine einzige Publikumsfrage. Eine junge Italienerin stand auf, monierte fehlende Geschlechterparität auf dem Podium, lobte das Nichtvorkommen des Wortes „Nation“ während des Gesprächs und schimpfte auf den Zaun an Ungarns Südgrenze.

Nun mussten die 89er-Helden Farbe bekennen. Frau Filep, heute Naturschützerin, beschränkte sich auf ein Zitat aus der Wendezeit: „Die Staatsgrenzen sind nicht dazu da, die Bürger einzusperren, sondern sie zu beschützen.“ Ex-DDR-Bürger Pfitzenreiter rief: „Freiheit ist ein Recht für alle. Mauern sind keine Lösung.“ Demokrat Nagy ergänzte: „Mauern sind keine Lösung, aber als Zwischenlösung braucht man sie manchmal.“ Und der Ex-Grenzschützer Bella: „Freiheit ist nicht Freizügigkeit. Souveränität braucht auch Hilfsmittel, um sie zu schützen.“ Ich lauschte gebannt, welche Position im Saal mehr Zuspruch fand. Der Applaus war absolut gleich verteilt.

Nagy, der eigentlich „nicht mehr darüber reden wollte“, steigerte sich am Schluss noch in eine Tirade gegen die westliche Presse hinein. Die Journalistin einer „großen westlichen Zeitung“ habe ihn gefragt: „Haben Sie damals überprüft, ob die DDR-Flüchtlinge Terroristen sind?“ Das Interview habe sechs Stunden gedauert, fauchte Nagy, „aber das war die blödeste Frage, da habe ich sie rausgeschmissen“.

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