Da geht die Grenze auf

Österreich Wie unser Autor im Burgenland vorschriftsmäßig maskiert an drei kroatische 24-Stunden-Pflegerinnen geriet
Ausgabe 18/2020

Nach 1918, als auf dem Gebiet von Österreich-Ungarn zwei slawische Staaten gebildet wurden, verfolgte der tschechoslowakische Präsident Tomáš Masaryk den Plan, sein Land und Jugoslawien über einen teils von einer kroatischen Minderheit bewohnten Landstreifen zu verbinden. So hätte er durchreiten können, von Prag bis an die Adria. Aus dem „slawischen Korridor“ wurde nichts, stattdessen entstand dort das österreichische Burgenland.

Bei der jüngst verbreiteten Nachricht, dass 24-Stunden-Pflegerinnen aus Kroatien ins Burgenland eingeflogen wurden, horchte ich auf. Derzeit zerschneiden geschlossene Grenzen die Transitrouten dieser Frauen: Einige wenige flüchteten wohl, andere sind einem neuen Schlepper-Business ausgeliefert (bis zu 600 Euro für eine Passage im Nachtkonvoi durch Ungarn), die meisten, mit 500 Euro Einmalprämie motiviert, bleiben länger bei ihrem Pflegefall, oft Monate länger.

Hunderte der eingeflogenen Kroatinnen wurden in Pinkafeld getestet und quarantänisiert. So kam ich nach Pinkafeld, das ausgebleichte Schilder als „Schönste Stadt Europas (2002)“ auswiesen. Vor dem Hintereingang eines Schulwohnheims saßen einige Pflegerinnen, die rauchenden hatten den Mund-Nasen-Schutz weggezogen. Die meisten waren ziemlich alt. Ich trat vorschriftsmäßig maskiert vor sie hin. Wenn sie negativ seien, erzählten sie mir, würden sie alle an ihre bestehenden Arbeitsplätze zurückkehren. Sie wussten, dass sie im „Gradišće“ waren. Das Geplauder endete, als die zwei „Leitpferde“ der Agentur herauskamen. Obwohl ich fünf Meter Abstand hielt, wurde ich zurückgescheucht, die Pflegerinnen vertrieben. Das Leitpferd, das als Tochter kroatischer Gastarbeiter in Deutschland das beste Deutsch sprach, rief im Kasernenton: „Ausweise hinlegen, zurücktreten“, Milena fotografierte die Ausweise. „Also, was wollen Sie?“ Dann musste ich auf eine Genehmigung der Agenturchefin warten. So kam ich zu einem Spaziergang durch die fünftgrößte Stadt des Burgenlands (5.800 Einwohner). Kein Städterdünkel, einige Kinder grüßten mich sogar. Ich fand eine Bar Südsee, eine Disco Hallelujah, und die Pizzeria Venecia wurde mit c geschrieben, weil sie auch Burger verkaufte und weil man das in Mexiko so schreibt. Bald rief die Chefin an, Anita Szojak: „Grad hat mich der Landesrat angerufen, alle sind negativ.“

Eine Kostenlawine

Als die Chefin vorfuhr, trat ich wieder vors Schulwohnheim. Die Leitpferde, die sich mit ironischem Stolz „Polizei“ rufen ließen, waren nun honigsüß, eine große Familie alle. Die Chefin verschwieg das Testergebnis noch vor den Pflegerinnen, „damit sie nicht übermütig werden“. Szojak war mit ihren 400 Kroatinnen Pionierin, in Österreich machen sonst meist Rumäninnen und Slowakinnen den Job. „Ich liebe das Land“, sagte sie, Mentalität, Küche und Fleiß seien ähnlich. Ihre Pflegerinnen arbeiteten im 28-Tage-Turnus. Der Chef, der selber fuhr, erklärte das auch mit den Kosten: „Wer zahlt das Fahren?“ Nach dem Charterflug begann der logistische Alptraum erst so richtig. Szojaks Kleinbusse taugten nicht fürs Sitzen mit Abstand, also mieteten sie große 54-Sitzer – „Das kostet eine Lawine“ –, und mit einer 72-Stunden-Sondergenehmigung, vom kroatischen Außenminister persönlich erwirkt, planten sie erstmals über die Grenzen zu fahren.

Am Ende holten mir die Leitpferde drei Pflegerinnen zum Interview heraus. Die erste, 67, einst Haushaltshilfe in der Schweiz, kam aus dem nur anderthalb Autostunden entfernten Međimurje, ihre Patientin war 85. Angst hatte sie nur um den Sohn und die Enkelinnen in Valencia. Sie war schon Rentnerin. „Warum arbeiten Sie noch?“ – „Besser leben.“ Die zweite, 62, früher Kellnerin, war auch aus Međimurje, ihr Klient war 94, sie hätte schon Anspruch auf eine – allerdings miserable – Rente. Angst hatte sie keine: „Wen’s erwischt, den erwischt’s.“ Die dritte, 59, zuvor Hausfrau, war aus dem weiter entfernten Sisak, ihr Patient 97. „Er wohnt im Wald, wunderschön.“ Sie hatte Angst: „Ein Horror, sterbende Kinder!“ Aber: „Die Kollegin ist schon zwei Monate bei ihm, es wird Zeit für mich.“ – „Wie lange wollen Sie noch arbeiten?“ – „Solange ich kann.“

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