Das große Hassen

Rumänien Mit dem Schlachtruf „Tod den Intellektuellen“ marschierten Bergleute aus dem Schiltal 1990 auf die Hauptstadt. Bis heute lässt sich kaum ergründen, warum
Ausgabe 25/2014

Da kommen sie wieder, die Bilder vom ersten Frühling der rumänischen Demokratie – Krawalle, Straßenschlachten, zu blutigem Brei geschlagene Gesichter. Im Juni 1990 zogen Bergarbeiter aus dem Schiltal nach Bukarest, verwüsteten Parteizentralen der Opposition, droschen auf demonstrierende Studenten ein. Es gab sechs Tote, 746 Verletzte. Die Losung dieser „Mineriade“ soll gelautet haben: „Tod den Intellektuellen!“ Ich fahre seit Wochen durch Rumänien, mit den Büchern auf meiner Rückbank könnte man mich für einen Intellektuellen halten. Ich biege spontan ins Schiltal ab. Will verstehen: woher dieser Hass?

Ich finde zwischen Petrila und Uricani eine städtische Agglomeration von 140.000 Einwohnern. Pulsierendes Straßenleben, eine junge Blondine untergehakt bei einer aufreizenden Romni. Unter den Akazien von Uricani ein Rentner mit Bügelfaltenhose und Gummistiefeln, elegant. An jeder Ecke Schilder des EU-Programms „Regio“. Millionenbeträge für Straßenbau, Pflasterung, die mondäne Fußgängerzone in Petroșani. Das haben sie sich erkämpft, diese starken, von Geld und Gefahr in die Südkarpaten gelockten Männer, die 1929, 1977, 1990, 1991 und 1999 die rumänische Politik aufmischten. 1929 schlug die Regierung der Nationalen Bauernpartei einen Streik nieder, mit 16 bis 58 Toten. Genau weiß man es nicht. 1977, bei einem von der tschechoslowakischen Charta 77 inspirierten Streik, musste Parteichef Nicolae Ceaușescu selbst zur Beruhigung anrücken.

Dämliche Fragen

Im Freibad von Lupeni. Nie im Leben habe ich so viele Liegestühle gesehen, die ganze Liegewiese ist zugestellt, mit mehr als 500 Stück. „Wenn es heiß ist“, sagt der Kassierer, „werden sie gebraucht.“ Vom Pool geht der Blick auf eine Reihe hoher Plattenbauten. Auf einen der Balkone ist das Dach hinabgesunken, aus manchem Flachdach wachsen Bäume. Ein Baum auf dem Dach, das macht gleich eine mesopotamische Stimmung.

Bei Nacht in Vulcan. Der Barmann – er ist 44 – war damals Kohlekumpel. Er erzählt, im Juni 1990 seien alle Bergleute gefragt worden, ob sie nach Bukarest mitkämen, um auf dem Universitätsplatz Ordnung zu schaffen. Die Regierung sei dazu nicht in der Lage. „Es war klar, dass sie fahren, um zuzuschlagen“, sagt er, „mich hat das nicht interessiert.“ 10.000 der damals 27.000 Bergleute seien gefahren. „Man hat sie manipuliert und in den Sonderzügen mit Alkohol abgefüllt.“ In Bukarest hätten sie nicht nur Oppositionelle verprügelt, sondern auch geplündert.

Bei Tag im belebten Park von Lupeni. Ich frage mich, wer von den reiferen Herren damals zugeschlagen hat. Ein Schlot ragt auf, als würde er das Retezat-Gebirge überragen wollen, in das sich Fahrradtouristen hinaufquälen. Auf der Parkbank gegenüber sitzt einer, der ins Profil passt. Er ist stark, hat eine verblichene Tätowierung auf dem Arm. Er isst langsam einen Apfel. Mustert mich, meine Lektüre. Als er aufsteht, spreche ich ihn höflich an: „Darf ich Sie etwas fragen?“ Er murmelt etwas, geht an mir vorbei. Ich: „Was ist Ihre Meinung zur Mineriade?“ Er dreht sich halb um. Grummelt unwillig: „Das ist die dämlichste Frage, die dir einfallen konnte.“ – „Dämlich?“ – „Ja.“ Er geht weiter, wirft den angebissenen Apfel von einer Hand in die andere. Umkreist mich noch lange, über die Maßen entspannt den Apfel jonglierend.

Die reden sich raus

Ich finde einen, der 1990 dabei war. Ein zerknautschtes Jungengesicht mit blauen Augen, die harmloseste Erscheinung. Er ist aus der ostrumänischen Region Moldau, die meisten Bergleute kamen einst von dort. Er bekommt eine gute Rente, umgerechnet 450 Euro. Er leugnet, dass sie in Bukarest „Moarte intelectualilor!“ skandierten und „Wir arbeiten – wir denken nicht“. „Unsere Losung war: Wir arbeiten, wir kämpfen, wir verteidigen die Regierung.“ Das reimt sich auf Rumänisch. Im Sonderzug nach Bukarest hätte ein Alkoholverbot geherrscht. „Warum?“, frage ich ihn immer wieder. „Warum diese Brutalität? Was hattet ihr gegen die Studenten?“

Die vier Freunde, die sich einschalten, lassen ihn kaum zu Wort kommen. Übertönen ihn mit ihren Theorien: Präsident Iliescu sei schuld gewesen, die Securitate, manipulierte Studenten, besoffene Bukarester Zigeuner. Der Moldauer verzieht nachdenklich sein Knautschgesicht: „Als es zu brutal wurde, habe ich die anderen gestoppt.“ Zurück bleibt das Gefühl – die reden sich alle raus. Und doch fühle ich mich nirgends in Rumänien so wohl wie zwischen den hängenden Gärten des Schiltals.

Martin Leidenfrost schrieb zuletzt über die Wahlverweigerung in der Slowakei

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