Meine rauschhafte Barceloneser Nacht beginnt nüchtern im katalanischen Parlament. Ich will wissen, was die vielen nach Katalonien zugewanderten Menschen von der Idee der Unabhängigkeit halten. Die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter stagnierte zuletzt – 2015 wählten 47,7 Prozent separatistische Parteien ins katalanische Parlament, 2017 waren es 47,5. Zwei Lager stehen einander fest gefügt gegenüber, aber 1,2 der 7,5 Millionen Einwohner Kataloniens haben nicht die spanische Staatsbürgerschaft. Werden diese Zuwanderer, sobald sie wählen dürfen, die katalanische Frage entscheiden? Die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) hat bereits mehrere Abgeordnete mit Migrationshintergrund. Sie stieg mittlerweile zur stärksten katalanischen Regionalpartei auf, in Umfragen und auch bei der gesamtspanischen Wahl im November 2019. Es war die ERC, die Premier Pedro Sánchez jüngst die Bildung einer Mitte-links-Regierung ermöglicht hat. Der Preis: ein „Tisch des Dialogs“ zwischen Madrid und Barcelona über den Status Kataloniens und eine einvernehmliche Zukunft.
Najat Driouech, 1981 in Tanger geboren, 1989 eingewandert, ist Abgeordnete der ERC im katalanischen Parlament. Sie empfängt mich mit einem grünen, gesichtsfreien Schleier zum Gespräch, bei dem ich frage: „Warum denkt eine Muslima marokkanischer Herkunft, dass die Unabhängigkeit Kataloniens eine gute Sache ist?“
Die Löwen schauen zu
Die lebhafte Frau erklärt, es gehe der ERC um „soziale Gerechtigkeit für alle“. Sie sitze hier für ihre Großmutter, „eine Feministin, obwohl sie nie aus ihrem Dorf rausgekommen ist“. Genauso arbeite sie für die vielen nicht aus der EU stammenden Frauen, „die aus Ecuador, aus Marokko kommen, auch für Menschen ohne Papiere, Papiere interessieren mich nicht. Ich bin die Stimme von allen.“ Auch wenn die Pressesprecherin der ERC zweifelnd das Gesicht verzieht, gibt Driouech die Zahl der in Katalonien lebenden Marokkaner mit 350.000 an. Ohne dass ich sie danach gefragt hätte, ruft die Mutter dreier Kinder begeistert: „In Katalonien werden jedes Jahr 13.000 marokkanische Kinder geboren!“
Natürlich kenne sie „keine Statistiken“, glaube aber, dass viele katalanische Muslime für die Unabhängigkeit seien. Katalonien, das verheiße sozialen Aufstieg. Sie selbst habe „als erstes Kind der Familie studiert“, Arabische Philologie und Sozialarbeit. 34 Personen aus Nicht-EU-Ländern würden die ERC in katalanischen Gemeinderäten vertreten. Die jungen Zuwanderer wüssten das, auch ihr Vater habe 2017 für die Unabhängigkeit gestimmt, „nicht meinetwegen“. In Spanien hingegen sieht sie „Repressionen, einen rassistischen König und mangelnde Anerkennung von Diversität“. Katalonien sei einfach „aufnahmebereiter“. Ich frage: „Ist das hier das Paradies?“ – „Ja!“
Danach verlasse ich die Fraktionsräume der ERC, deren Vorsitzender in Spanien einsitzt und deren Generalsekretärin nach Genf geflohen ist. Beim Hinausgehen fällt mir auf, dass die Löwen des angrenzenden Zoos, wenn sie die savannenfarbenen Steine im Gehege besteigen, eine perfekte Sicht aufs katalanische Parlament haben.
Als Nächstes gehe ich rumänisch essen. In Gesamtspanien leben mindestens 900.000 Rumänen, und so will ich die Meinung des hünenhaften Wirtes Vladimir über eine Unabhängigkeit hören. Unter einem Bild des Nationaldichters Creangă sitzend, versuche ich mit dem Aufsagen eines Creangă-Verses Eindruck zu schinden: „So arm wie dieses Jahr, wie letztes Jahr und seit ich bin, bin ich nie gewesen.“
Vladimir ist noch Staatsbürger Rumäniens. Er gibt sich zunächst neutral: „Hauptsache, es fällt eine Entscheidung, so oder so, jetzt investiert hier wegen der Ungewissheit niemand.“ Da er seine Gäste bedienen muss, liegen zwischen seinen Statements lange Wartezeiten, die er mir mit einem 60-prozentigen Pflaumen-Hausbrand vertreibt. Vladimir spricht nur Spanisch, kein Katalanisch, und so klingt schließlich doch eine prospanische Tendenz bei ihm durch: „Die Spanier lassen sie niemals gehen.“
Vom 60-Prozentigen erhole ich mich nicht mehr, den Rest der langen Nacht über fahre ich mit der Metro durch die Migrantenviertel. In der südlichen Vorstadt L’Hospitalet de Llobregat verkaufen Inder Kochbananen und Südamerikaner Yuka-Brot und Wurstkreationen wie „Latin Frankfurt Tropicana“. Im nördlichen Außenbezirk Nou Barris stehen duftende Pinien zwischen stillen Wohnblöcken. Ich bin gerührt, als in der Metro einer „Comandaaante Che Guevaaara“ trällert, und glotze Indias in Plüschtrainingsanzügen und mit grün bemalten Wangen an. Nach der Unabhängigkeit Kataloniens frage ich nicht mehr. Ich habe keine Statistiken. Wer die hat, kennt der das Ende der Geschichte?
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