Der beste Mensch der Welt

Kosovo Das serbisch geprägte Dorf Velika Hoća verehrt Peter Handke. Im albanischen Nachbarort ist man da skeptischer
Ausgabe 45/2019

In diesem erst gut zehn Jahre bestehenden Kleinstaat tun sich zwei Dinge: Erstens wurden die bisher regierenden Kriegskommandeure abgewählt, sodass nun erstmals der linksnationalistische Outsider Albin Kurti, der das Parlament immer gern mit Tränengasattacken lahmlegte, eine Regierung zu bilden versucht. Zweitens bekam Peter Handke, unter anderem Autor des Kosovo-Büchleins Die Kuckucke von Velika Hoća den Literaturnobelpreis. Velika Hoća ist eine kleine serbische Enklave im Südwesten des Kosovo, mit welcher der serbophile Handke seit 2008 eine Beziehung pflegt. Sein Nobelpreis ist für viele ein Skandal. Besonders empört reagieren Exponenten des deutschen Qualitätsjournalismus, deren Sprachschablonen Handke seit 1996 angreift. Die FAZ verglich ihn mit Hitler.

Auch ich habe einen Bezug zu Handke. Ich lese meinen österreichischen Landsmann sehr gern, und aus einem Handke-Brief an eine Redaktion weiß ich, dass auch er einige meiner Europareportagen gelesen hat. Er nannte sie „widerborstig-gerechte Fernbilder“. Man verzeihe mir diese unverhüllt ausgestellte Eitelkeit, doch bei der Nachricht aus Stockholm fühlte ich mich ein wenig vom Glanz des Preises gestreift. Handkes proserbische Stellungnahmen sehe ich seit jeher entspannt: Es gibt zwar einige wenige Sätze von ihm, in denen er es an Mitgefühl mit muslimischen Opfern der Jugoslawienkriege vermissen lässt. Doch sind gerade auch seine Balkanbücher von einer solchen Beschreibungsgenauigkeit, dass sie einen dringend benötigten Ausgleich herstellen zum einseitigen medialen Mainstream.

Bei allem Bemühen, Europa gerecht und widerborstig auszuleuchten, bin ich letztlich auch ein Instant-Reporter. Handke hatte kurz nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 in Velika Hoća gelebt, ich kam neulich nur für einen halben Tag. Mir war daher die Dreiviertelstunde am kostbarsten, da ich nichts anderes tat, als unter der Dorfplatzlinde zu sitzen und zu grüßen. Velika Hoća hatte ein Straßenleben wie aus einem Handke-Stück. Ein ausgewachsener Kerl saß auf einem Traktor von der Größe eines Kinderspielzeugs und zog damit eine gewaltige Fuhre Brennholz. Ein Weißhaariger, der unter seinem Gepäck stöhnte, rastete auf einer Bank, steckte sich eine Zigarette in die Mundmitte und spazierte beschwingt weiter. An den Hoftoren hingen die Ballongirlanden längst abgefeierter Hochzeiten, „das fällt von allein ab“. Wer es nicht schon ist, müsste in Velika Hoća zum Serbenfreund werden. Unter dem Foto eines verträumten Handke stand: „Gratulation unserem Nobel!“

Ich wollte ins albanische Nachbardorf gehen. Alle hielten das für eine schlechte Idee, ja sie leugneten sogar, dass Handke, obwohl er das im Buch beschreibt, einst dorthin wanderte. Herr Dimitrije war „jeden Tag“ runtergegangen, vor 1999, vor dem Krieg, wie viele andere hatte er dort unten Weinstöcke gehabt, die seither verwildern. Er erzählte: „Handke übernachtete eine Nacht bei mir und trank Traubenschnaps mit mir.“ Das Buch selbst war Dimitrije unzugänglich: „Die Skipetaren (die Albaner, Anm. M. L.) lassen so was nicht rein.“

Ich fragte sie nach ihrer Meinung zu einem möglichen Ministerpräsidenten Albin Kurti. Mir war klar, dass der momentan Kreide fressende Krawallpolitiker für Serben ein rotes Tuch darstellt: Die zehn gewählten serbischen Abgeordneten, die allesamt einer mit Belgrad abgestimmten Liste angehören, schließt er von jeder Zusammenarbeit aus. Hitzköpfe wie Kurti blockieren bis heute die Umsetzung der „Brüsseler Vereinbarung“, welche die Autonomie einer „Gemeinschaft serbischer Kommunen“ vorsieht. Tränengas ließ er versprühen, um die Rückgabe einiger Hektar unbesiedelten Weidelands im Hochgebirge an Montenegro zu verhindern, die Vereinigung mit Albanien bleibt sein Fernziel.

Eine einzige Hast

Gleichzeitig ist es gerade Kurti, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, etwa wenn er kritisiert, wie üppig sich die USA das Herbeibomben dieses missglückten Staatsgebildes abgelten lassen. Kurti spricht aus, dass die Autobahn von Pristina nach Tirana „dreimal teurer war, als sie es zu Marktpreisen gewesen wäre“, und dass der US-Botschafter Christopher Dell, der die Auftragsvergabe an den US-Konzern Bechtel durchgeboxt hatte, hinterher bei ebenjener Firma anheuerte. Für seine Konsistenz bekam Kurti in Velika Hoća freilich keine Anerkennung.

Ich brach schließlich ins albanische Nachbardorf auf. Was schon Handke als kein „Dahinwandern ... in fast luftigen Höhen“, sondern als ein „Eindringen“ geschildert hatte, war für mich eine einzige Hast. Die Serben hatten mir Entfernungen von bis zu sechs Kilometern genannt. Zwölf Minuten nach dem letzten Haus von Velika Hoća sah ich indes schon das erste Haus von Brestoc. Dafür, dass niemand seit 20 Jahren den schnurgeraden Fußweg gegangen war, waren die Angaben der Serben auffällig aktuell: Ja, wo der frische Asphalt begann, musste ich links abbiegen, und nein, die Hunde der Albaner hätte ich nicht fürchten müssen. Ich sprang durch eine Bachfurt aus vollgesogenen Sofapolstern, schlich durch dürre Maisstauden, die tausendgrün gekringelt ausgetrieben hatten, und war in Brestoc.

Der Ort bildete den Anfang einer hässlich zersiedelten Agglomeration, die im Grunde bis Prizren und Gjakova reichte, auch hier zogen Traktoren Brennholz, und es wurde klarer Traubenschnaps gebrannt. Im Grill Café Ylli gab es nichts als Čevapčići. Der Besitzer hatte während des Krieges in der französischen Schweiz gearbeitet und war zurückgekehrt, „da mir die Serben meinen Vater umgebracht haben“. Die vielen Kosovo-Albaner in der Schweiz sind die größten Kurti-Fans, Kurti beorderte sie auf Facebook als Billigflieger zum Wählen in den Kosovo.

Als ich aufgegessen hatte, erwarteten mich schon zusammengelaufene albanische Männer vor der Tante-Emma-Bierschenke. Auch in Brestoc wählten die Jungen Kurti, die Etablierten dagegen die Kriegskommandeure. Ein Älterer sagte: „Kurti, das bedeutet Krieg“, nahm das aber schnell zurück, „es kann keinen Krieg geben, die NATO steht hier“. Drei waren Lehrer. Einer sagte: „Präsident Thaçi hat mein Gehalt um 50 Prozent erhöht, deshalb bin ich für ihn, das ist alles.“ Die Zahlen, die sie mir nannten, widersprachen sich mehrmals. Ein Lehrer sagte, Serben hätten in Brestoc 67 Zivilisten ermordet, ein anderer Lehrer sprach von 36. Als der Dorfpope von Velika Hoća einmal behauptete, in Velika Hoća würden „Millionen Serben“ leben, war die Hyperbel wenigstens erkennbar.

Es wurde finster. Die albanischen Männer redeten auf mich ein, „mir haben sie die Mama umgebracht“, „mir Mama und Papa, zwei friedliche Zivilisten, zu Hause“. Zwei der Männer bestanden darauf, mich zurück nach Velika Hoća zu fahren. Der Jüngere war noch nie dort gewesen. Der Ältere war Bezieher einer Veteranenrente – auch so sichern sich die Kriegskommandeure Loyalität, die Zahl der „Veteranen“ ist seit dem Krieg explodiert. Wir stiegen in den Wagen. Der Ältere zeigte mir seine drei neuen Häuser, alle im gleichen Silber-Luxus-Techno-Stil errichtet, angeblich „von Schwarzarbeit als Gärtner in Bayern“.

Ich fragte die beiden: „Habt ihr keine Angst, nach Velika Hoća zu fahren?“ Der Veteran antwortete: „Ich habe keine Angst vor ihnen, sie haben Angst vor mir. Dass ich komme und frage – MAMA?“ In Velika Hoća angekommen, stiegen sie kurz aus dem Auto, schnupperten betont locker die serbische Luft und brausten davon.

Ein paar alte Serben saßen unter den hochhängenden Trauben des schönsten Hauses. Auf das Schwimmbad, das ihnen Handke vor Jahren vom Ibsen-Preis spendieren wollte, konnten sich die Dörfler nicht einigen, „es gibt doch den Teich, da baden die Fische drin“. Handke habe stattdessen jedem Haus 500 Euro geschenkt.

Der Dichter war für die Serben in Velika Hoća nur „der beste Mensch der Welt“, „der die Wahrheit schreibt“, und für die Albaner in Brestoc war er nur „der Freund des Verbrechers Milošević, der niemals den Nobelpreis hätte kriegen dürfen“. Dass Handke eine Beziehung zu Velika Hoća hat, war in Brestoc unbekannt. Sein Buch hatten weder die einen noch die anderen gelesen. Dabei täte ihnen das gut.

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