Der Viehheilige Leonhard

Ostwind Kolumne

Eine kleine Sommerpause hatte auch Martin Leidenfrost bei seinen Erkundungen in Osteuropa eingelegt. Fünf Wochen ist es her, dass er seine Reise mit dem Wagon Slovakia durch Ungarn beschrieb (Freitag 26/07) - als er unterwegs war zur Besichtigung eines wahrhaftigen Zigeunerbarons, der - wie sich zeigen sollte - noch mehr Würde ausstrahlte, "als ein weißer Mann für möglich hält".

Diesmal führt sein Weg zu einer verlassenen Insel im südmährischen Stausee Nové Mlyny, genauer zu einer Kirche dort und einem Dorf, das es seit den siebziger Jahren nicht mehr gibt. Versunken wie einst das sagenumwobene Atlantis. Nur nicht so dramatisch und so ausgesprochen geschichtsträchtig.

Seit Jahren hat mich ein Ort angezogen, eine kleine Insel in einem großen Stausee. Oft fuhr ich an diesem See vorbei und sah im fernen Dunst die Insel, auf der verloren ein Kirchlein stand.

Seit Jahren wollte ich auf die Insel, vor kurzem hat sich mein Wunsch erfüllt. Was ich fand, war so schön, dass man es fast nicht in die Zeitung schreiben sollte.

Die Insel liegt in der Tschechischen Republik, im südmährischen Stausee Nové Mlyny, einer Kaskade von drei zusammenhängenden Wasserflächen, die sich über 32 Quadratkilometer erstrecken. Sehr viel mehr wusste ich nicht, als wir frühmorgens das Schlauchboot meines Kapitäns aufgeblasen hatten, ein hochmodernes, hundertventiliges, von Ingenieuren der US-Marine entwickeltes Prachtexemplar der menschlichen Seefahrt.

Ich wusste natürlich, dass im Stausee Nové Mlyny II jedweder Wassersport verboten ist. Davon kündete die Verbotstafel, die schief vornüber gebeugt am Nordufer des durchgehend verschilften Sees stand. "Naturreservat! Betreten verboten", stand da auf Tschechisch, "Paragraf 34 des Gesetzes 114/1992 sb."

Weiter wusste ich, dass der in den siebziger Jahren aufgestaute Zusammenfluss der Flüsse Thaya, Svratka und Jihlava ein Dorf versenkt hatte: Es handelte sich um Muschau/Musov, eine seit 1276 bestehende Pfarre - bis 1945 von 700 deutschsprachigen Südmährern besiedelt.

Es hat an jenem Montag ein furchtbarer Wind geblasen. Weil der Wellengang am Südufer ruhiger schien, ließen wir das Boot dort ins Wasser, doch bald schaukelten wir wie die Nussschale im Ozean. Kurz nach dem Ablegen zog sich mein Kapitän seine orange leuchtende Schwimmweste an, und kurz darauf hätte er bald die Umkehr vorgezogen. Ich suchte mit dem Steuerruder Kurs zu halten und herausragende tote Äste zu umschiffen. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren wir nicht Herr des Geschehens. Es hat es uns zu der Insel getrieben.

Die Landung schien schier unmöglich. Auf einer winzigen Nebeninsel kreischten Hunderte Möwen über gischtumtosten Baumstümpfen. Die Insel mit der Kirche war von Schilf umgeben, dahinter zugewuchert von einer prallen Vegetation, eine Art lindgrünes Riesengras, vier oder fünf Meter hoch, den Blick auf die Kirche versperrend. Mit Mühe paddelten wir ans windgeschützte Ufer, zogen das Boot ins Schilf und bahnten uns einen Weg durch baumhohes Unkraut.

Und plötzlich war es zauberhaft. Plötzlich war es sonnig und still, kein Lüftchen wehte mehr. Wir standen zwischen üppig blühenden Rosensträuchern, und die Kirche lag vor uns. Eine Kirche romanischen Ursprungs, mit abgeschlagenem Putz, aber als Bauwerk intakt. Keuchend und durchnässt stolperten wir aus dem Sturm in die Lieblichkeit eines wilden Rosengartens.

Der Kirchturm war zugänglich. Geduckt stieg ich durch eine enge eiserne Wendeltreppe hinein, dann über eine breitere Holzstiege den Turm hinauf. Ich ging langsam, mir war mulmig, mein Kapitän blieb lieber draußen. Dass in die Wände Inschriften gekratzt waren, beruhigte mich. Es waren Vornamen mit Jahreszahlen, die meisten nicht sehr alt. Oben angekommen, unter dem intakten Turmdach, stand ich wieder im Wind, der durch die Fenster pfiff. Ein hölzerner Fensterladen lag herausgebrochen in der Turmkammer, wie das Gerippe einer gestrandeten Barke. Der Ausblick war herrlich, die Seenlandschaft, die Möwen, die Weinberge des kleinen Pálava-Gebirges.

Ich stieg herunter und betrat die Kirche. Sie war vollkommen leergeräumt, eine Schicht aus zerbröseltem Putz bedeckte den Boden. Gleich am Eingang lag ein behauener Stein, die Inschrift war deutsch. Ich konnte nur den Schluss entziffern: "Heiland ewiglich. 1850".

Die Wände waren stellenweise bis aufs Ziegelwerk freigelegt, ein paar wenige Wandgemälde waren noch zu sehen, vielleicht der Muschauer Schutzheilige, der Viehheilige Leonhard. Vom Deckenfresko machte ich noch einen knienden Engel aus.

Um auf den Chor zu gelangen, musste ich mich draußen durch dorniges Gestrüpp schlagen; der Zugang zu dem eisernen Wendeltreppchen war vollkommen verwachsen. Alle Wände des Chors waren von Besuchern vollgeritzt worden. Meist tschechische Vornamen, "Marcela, Monika, Mira, Lenka", aber auch "21. 08. 1991: Karsten, Jörg, Uwe, Jana". Oft waren Ortsnamen hinzugefügt, meist aus der mährischen Umgebung, und Daten: 15.07.1988, 30.07.1989, 18.03.1990. Beinahe alle Einträge stammten aus der Zeit vor 1994. In jenem Jahr wurde Nové Mlyny II für die Öffentlichkeit gesperrt.

Die Kirche war trocken, und sie roch gut. Obwohl sie kein Gotteshaus mehr war, hatte ich nicht das Gefühl, an einem entweihten Ort zu sein. Unter all den Inschriften fand ich keine einzige, die schmähenden oder anzüglichen Charakters gewesen wäre. In der Kirche lag keinerlei Müll herum.

Ich zündete dort, wo einmal das Tabernakel gewesen war, eine Kerze an und ging zu den wilden Rosen hinaus, zu meinem Kapitän, der mit entzücktem Gesicht im Gras saß. Wir malten uns aus, wie das Dorf ausgesehen haben mochte. Später sollte ich von Zeitzeugen erfahren, dass wir uns in einigen Punkten getäuscht hatten.

So hielten wir die Muschauer Insel für den Rest des Kirchbergs. In Wahrheit wurde sie von den sozialistischen Behörden absichtlich bewahrt, mithilfe der künstlich aufgeschütteten Böschung, durch deren Bewuchs wir uns geschlagen hatten. Wir wussten nicht, dass das Dach nach der Wende erneuert wurde, weil die Ziegel gestohlen waren.

Wir wussten nicht, dass das Dorf, bevor es geflutet wurde, in den sechziger Jahren geschleift worden war. Die tschechischen Neusiedler, die nach einer Generation das Dorf wieder verlassen mussten, haben die Häuser selbst abgetragen. Die meisten haben mit dem Baumaterial ganz in der Nähe, im Dorf Pasohlávky, ein neues Muschau gebaut, das bis heute noch so heißt: "Novy Musov".

Und ich kannte, als wir verzückt in der Windstille standen, auch noch nicht Marie Landauf, eine Muschauerin des Jahrgangs 1916, die mir von ihrem Dorf erzählt hat. 1960 hatte Marie Landauf ihr mittlerweile tschechisch gewordenes Dorf besucht. Der unbekannte Tscheche, der in ihrem Elternhaus lebte, habe sie "sehr geehrt", erzählte sie mir. Was aus ihm geworden ist, weiß sie nicht. Novy Musov hat sie nie besucht. "Es ist ein ungutes Gefühl, man ist zuhause und fühlt sich doch fremd."

Das alles wussten wir nicht, als wir beseelt ins Schlauchboot stiegen und uns auf die gleiche Weise von der Insel entfernten, wie wir gekommen waren - durch Treibenlassen im aufgewühlten See. Wir landeten glücklich am Nordufer, genau bei der Verbotstafel, die uns als günstiger Anlegeplatz bekannt war. Wir zogen die Stöpsel aus den hundert Ventilen. Dann mussten wir nur noch die fünf Kilometer zum Auto laufen.


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