Durch Mutationsgebiete

Lockdown-Europa Unterwegs mit Entsendebestätigung, Pre-Travel-Clearance, Ehrenerklärung und PCR-Test
Ausgabe 11/2021
Unterwegs in Österreich: Ein Mitarbeiter des Testteams gibt einem Militärpolizisten einen Testbefund, mit dem man ausreisen darf
Unterwegs in Österreich: Ein Mitarbeiter des Testteams gibt einem Militärpolizisten einen Testbefund, mit dem man ausreisen darf

Foto: Eibner Europa/IMAGO

Neulich fuhr ich aus dem ostösterreichischen Burgenland nach Marseille. Wegen seiner undurchschaubaren Einreisepolitik mied ich Deutschland und transitierte durch die Region, die neuerdings einen Namen wie aus Science-Fiction-Filmen trägt: „Mutationsgebiet“.

Ich hatte für meine Fahrt durch Lockdown-Europa alle erforderlichen Papiere: Entsendebestätigung, Pre-Travel-Clearance für Österreich, Ehrenerklärung über Symptomlosigkeit für Frankreich. Um aus Tirol wieder rauszukommen, hatte ich einen aktuellen Antigentest; um nach Frankreich reinzukommen, einen brandaktuellen PCR-Test. Da sich die Bestimmungen der Staaten auch während einer nur zweieinhalbtägigen Reise ändern, hatte ich auch meinen Drucker wieder dabei.

Die Sonne schien, die Fahrbahn war trocken. Zu meiner Rechten lag Wiener Neustadt. Im Radio wurde gemeldet, dass die Ausreise aus Wiener Neustadt künftig nur noch mit negativem Test erlaubt ist. Ich durchquerte die Steiermark. Im Radio wurde gemeldet, dass sich der Verdachtsfall auf die brasilianische Mutante in Salzburg-Stadt erhärtet hatte, der Betroffene war aber schon wieder gesund.

Auf meiner Route lag das gesperrte Salzburger Städtchen Radstadt. Ich fragte an der Tankstelle: „Warum ist Radstadt gesperrt, Mutationen?“ Das konnte der Angesprochene nicht beantworten. Nur so viel: „Wir haben 50 Kranke!“ Er musste jeden zweiten Tag testen gehen, „die Ortschaft hat 4.800 Einwohner, wir machen hier jeden Tag 800 Tests!“ Als Grund für die hohe Inzidenz nannte er „drei Cluster“: Schule, den Campingplatz und eine Massenunterkunft, in der „es Rumänen erwischt hat, eigentlich sind’s Bulgaren“. Hinter Radstadt stoppten mich zwei Polizisten: „Wo kommen Sie her?“ – „Aus dem Burgenland.“– „Und wohin fahren Sie?“ – „Nach Frankreich.“ – „Ah, Fronkreisch!“ Österreichs Provinzgendarmen, das muss man anerkennen, bewältigen Corona bestens gelaunt.

Alle durchgeimpft in Schwaz

Spät am Abend reiste ich in Tirol ein. Auf der Autobahn informierten Leuchtschriften, dass man nur mit Corona-Test nach Italien reinkommt und nur mit Corona-Test aus Tirol heraus. Ich betrat den Mutationsbezirk Schwaz, berühmt für eine Häufung der südafrikanischen Mutation, dank einer von der EU-Kommission durchgereichten Extralieferung Biontech-Pfizer wurde die gesamte willige Bevölkerung (76 Prozent) durchgeimpft. Neugierig bog ich in die „Silberstadt“ ab. Sie war hübsch, da rankte sich was Mittelalterliches den Hang hinauf, man sollte nicht nur zum Mutantenschauen kommen.

Zurück zur Autobahn, Dösen im Auto, nichts und niemand. Ich freute mich auf einen Kaffee in der Raststätte. Die einsame Verkäuferin – ostslawischer Akzent, schwarze FFP2 – verwies mich aufs Kühlregal: „Sie können kalten Kaffee haben.“ – „Wieso?“ – „Gastronomiegesetz, um 20 Uhr muss ich Restaurant zumachen, ich riskiere nicht.“ – „Sind wir hier im Bezirk Schwaz?“ Ihr Blick durchbohrte mich: „Ja.“

An der Einfahrt zum Arlbergtunnel stand ein halb offener Polizeicontainer. Ein oranger Heizkolben wärmte und beleuchtete ein junges Polizeipärchen in den futuristischen Uniformen, die ein später für seine Käuflichkeit verurteilter Innenminister eingeführt hatte. Das war fotogen. Österreichs Straßensperren, das muss man anerkennen, genügen den höchsten ästhetischen Ansprüchen. Ich hatte die Straßensperren zu Beginn des Krieges in der Ostukraine gesehen, kein Vergleich.

Ich nahm die Route über den Arlbergpass. In Sankt Anton waren mehrere Fahrzeuge einer „Militärpolizei“ abgestellt. Ich bin Österreicher, hatte aber bisher nichts von der Existenz einer österreichischen Militärpolizei geahnt. Oben auf der Passhöhe blockierte ein rot-weiß-roter Faltzaun die Straße. Innerlich triumphierend händigte ich dem Militärpolizisten meine beiden negativen Tests aus; die Ergebnisse dieser beiden Labors hatten mich über jede europäische Grenze gebracht. Der Militärpolizist aber sagte: „Das eine ist eine Kopie, auf dem anderen fehlt die Unterschrift.“ An jenem Tag, warf er mir vor, hatten ihm 800 Personen ein PDF auf ihrem Smartphone gezeigt, nur zwei waren wie ich mit ausgedruckten Tests gekommen. Ich fragte ihn: „Ist es verboten, kein Smartphone zu haben?“ Er verneinte.

Es war gegen drei in der Nacht, die Temperatur minus sieben, auf 1.793 Höhenmetern lagen anderthalb Meter Schnee, der junge Soldat am Faltzaun starrte den älteren an, und der starrte meine Corona-Tests an. Irgendwann ließen sie mich wortlos durch. Der Rest meiner Fahrt war easy, weder an der Schweizer noch an der französischen Grenze wurde kontrolliert, und in der Provence dufteten blühende Sträucher. Auf dem Rückweg umfuhr ich die Mutationsgebiete in einem weiten Bogen.

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