Ein konsistenter Mann

Europa In Portugal ist die Linke bunt und vielfältig. Hier konnte ich mit einem echten Stalinisten einen Kaffee trinken gehen
Ausgabe 16/2020
Mancherorts in Portugal weht sie noch, die alte Fahne des Kommunismus
Mancherorts in Portugal weht sie noch, die alte Fahne des Kommunismus

Foto: Miguel Villagran/Getty Images

In einer grauen Vorzeit, als man noch in einen Billigflieger springen konnte, um mit dem langjährigen Chef der pro-albanischen portugiesischen Stalinisten auf einen Kaffee zu gehen, also in diesem Winter, tat ich genau das. Ich kam aus Lissabons Zentrum, und am metallischen Bahnhof der reizlosen Vorstadt Alverca empfing mich Eduardo Pires, 72 Jahre alt, gelernter Thermodynamik-Ingenieur, und fuhr mich in eine nüchterne Großkonditorei. Er trug einen graubraunen Trenchcoat und argumentierte messerscharf.

Wer nun einwendet, ein marginaleres Thema hätte ich mir nicht aussuchen können, dem widerspreche ich ein bisschen. An Portugal ist faszinierend, dass man hier die wohl vielfältigste Linke Europas findet. Während Rechtspopulismus keine Rolle spielt, ist das linke Spektrum selten vollständig. Selbst die Maoisten holten bis zuletzt stabil ein Prozent. Die sozialistische Minderheitsregierung wird von zwei linken Bündnissen toleriert, von den Leninisten der KP (sechs Prozent) und dem urbanen Linksblock (zehn Prozent), an dem Trotzkisten und Pires’ stalinistischer Partido Comunista Português Reconstruído beteiligt sind.

Pires erklärte mir, dass seine Partei „gegen Chruschtschows Revisionismus geboren wurde, nachdem dieser die Verbrechen Stalins verurteilt hatte“. – „Sie verurteilen die nicht?“ – „Das ist eine interessante Sache.“

Er holte Luft, stellte meinen Macchiato und seinen Pingado zur Seite und referierte über das Volksfrontkonzept der Partei, deren Erster Sekretär er 1975 bis 1979 und 1982 bis 1993 gewesen war (1979: 2,18 Prozent, ein Parlamentssitz). Er gab mir ein Foto, das ihn faustballend vor 35.000 Anhängern zeigte. Er beschuldigte die prosowjetischen Kommunisten, die linke Nelkenrevolution von 1974 vergeigt zu haben: „In acht Jahrhunderten gab es keine solche Volkserhebung! Die Landarbeiter hielten Land besetzt, die Arbeiter kontrollierten die Fabriken, aber innerhalb von sechs Monaten verloren wir die Hegemonie.“ Pires, damals „wie Walesa in Polen Koordinator in den Werften“, nannte es einen „Theorie-Fehler“, dass seine Partei lange im Untergrund agierte. Sie hätte wie Walesa und Lula in Brasilien Massenbewegungen organisieren müssen.

Sein Vorbild war „unter anderen Bedingungen“ Albanien. Bis 1992 hatte er dem isolierten Balkanland häufig mehrwöchige Visiten abgestattet. Das Leben in Enver Hodschas Bunkerstaat beschrieb Eduardo Pires so: „Die Beziehungen unter den Personen waren sehr fortgeschritten, die Beziehungen der Produktivkräfte sehr rückständig.“

Er zeigte ein Foto, auf dem er mit Enver Hodscha zu sehen ist. Zwei zupackend händeschüttelnde Herren. Wie mit mir sprach er auch mit dem „großen Diktator“ Französisch. Es quälte Pires, dass er für den Fall des Kommunismus „keine wissenschaftliche Erklärung“ hatte. Sowjetunion okay, die war ihm ohnehin nie eine Reise wert, aber warum fiel mit der Berliner Mauer auch sein Albanien dem wildesten Kapitalismus anheim? „Die Trotzkisten fanden eine Erklärung mit Trotzkis Bürokratiekritik.“ Doch war 1983 ein erstes Wahlbündnis von Pires’ Partei mit den Trotzkisten gescheitert (0,5 Prozent).

Abknutschen auf der Straße

Dann aber, 1999, formte Pires’ Volksfront UDP mit diesen „kleinbürgerlichen, für Drogenliberalisierung streitenden Intellektuellen“ den „Linksblock“. Der Politrentner Pires freute sich über die starken Auftritte von Catarina Martins, der Vorsitzenden, in etlichen Fernsehdebatten. Er sprang vom Stuhl auf – „He, Catarina!“ – und führte mir vor, wie sie von einfachen Menschen auf der Straße abgeknutscht werde. Den Kurs des Linksblockes nannte er „liberalsozialdemokratisch“, „Sozialismus ohne Definition“, „à la Olof Palme die Fahne des Sozialstaats hochhalten“. Wir saßen drei Stunden zusammen, die Frage nach Stalin umschiffte er immer wieder. „Wir haben unsere Stalin-Kritik gemacht. Das ist nicht die fundamentale Frage, und ihn als Massenmörder zu verteufeln, ist unwissenschaftlich – er hat den Nazismus besiegt.“ „Stalin entdeckte 1952, dass niemand in den Fabriken das Wertgesetz kannte. Er schrieb eine Arbeit darüber, aber die Kader verstanden ihn nicht.“ „Kann wirklich ein einziger Mann, ein einziger Verräter, den Fall einer Bewegung verursacht haben, welche die Hoffnungen der ganzen Menschheit weckte?“ Einmal nannte er Stalins Verbrechen „Marginalien“ und gab zu: „Ich bin in einer wissenschaftlich-theoretischen Krise.“

Am Ende fuhr mich Eduardo Pires in seinem leicht verbeulten Kleinwagen zum Metallbahnhof zurück. Zum Abschied fragte er mich erstmals nach meiner Meinung: „Und, was denken Sie über mich?“ Ich dachte nach: „Dass Sie ein konsistenter Mann sind.“ Er lächelte kurz.

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