Eine ehemalige schwedische Spitzenpolitikerin arbeitet plötzlich als Lkw-Fahrerin bei der Müllabfuhr – diese Nachricht hat sich vor allem in oligarchisch regierten Ostländern wie ein Lauffeuer verbreitet. Ich zum Beispiel erfuhr aus einer montenegrinischen Zeitung von ihr. Sogar Wladimir Putin erwähnte sie schon. Sie heißt Ann-Sofie Hermansson, war Bürgermeisterin von Göteborg, dort besuche ich sie. Uns verbindet, dass unsere Väter Lkw-Fahrer waren. Für den Fall, dass mich die Schreiberei nicht nähren sollte, zahlte mir mein Vater den C-Führerschein.
Wir reden im Aufenthaltsraum des Abfallunternehmens „Renova“, chic und schön wie ein Vier-Sterne-Hotel. Hermansson ist klein gewachsen, kurzhaarig und drahtig, ihr Blick konzentriert. Die Wartezeit zwischen Betriebsschluss und meiner Ankunft hat sie in der Kraftkammer überbrückt. Sie wuchs auf einer Insel auf, war Motorradfahrerin und graste mit ihrem damaligen Partner Europa ab. Nun steht sie um 3.30 Uhr auf. Gegen acht ist sie schon so hungrig, dass sie „in einer Arbeiterkantine zu Mittag“ isst. „Das kommt mir entgegen, die kochen gut und viel, ich esse vor allem Fisch.“ Sie sei froh, raus zu sein aus dem „toxischen Umfeld Politik“. Sie zeigt mir die abgestellten Müllautos, zusammen mit den Kollegen sammelt sie tagtäglich Biomüll und Restmüll ein. Sie mag die Arbeit. Die Müllmänner – Frauen bedienen am ehesten noch die Sortierkräne – „haben eine starke Identität, wie bei Volvo, wo ich mit 19 als Gabelstaplerfahrerin begann“. Zwar wird sie per GPS überwacht, doch schätzt sie die Freiheit, die Pausen bei ihrer Route selbst zu bestimmen. Viele ihrer Kollegen sind Zuwanderer. Sie bekommt mit, dass der Gesellschaft oft das Verständnis für harte körperliche Arbeit fehlt: „Ein Arzt sagte zu einem Kollegen, seine Beschwerden könnten genauso vom Golfspielen kommen.“
Hermanssons Ausstieg aus der Politik 2019 kam ungewollt, die sozialdemokratische Fraktion entzog ihr den Rückhalt. „Die Partei fand, dass ich zu viel über Radikalisierung von Muslimen sprach, vor allem über Unterdrückung auf Basis von Ehrbegriffen – diese jungen Mädchen sind aber auch Göteborgerinnen!“ Sie wurde von zwei Muslimen verklagt. Sollte sie in letzter Instanz verlieren, bliebe sie auf ruinösen Gerichtskosten von 60.000 Euro sitzen. An einen Parteiwechsel habe sie nie gedacht, sei weiter Sozialdemokratin, doch die Partei schweigt.
Kräne sind Fortschritt
Frage: Warum musste es gleich die Müllabfuhr sein? „Ich muss meine Wohnung abzahlen, die Kreditraten bei der Bank bedienen.“ Warum aber macht sie es nicht wie andere und casht als Lobbyistin ab? Vorsichtig, ohne allzu sehr auf andere Ex-Politiker zu zielen, antwortet sie: „Da bin ich nicht gut darin, dafür fehlt mir die Qualifikation, und die Partei hätte das nicht gemocht.“ Sie ist 57, macht den Job seit Januar 2020, hätte noch acht Jahre bis zur Rente. Sie verdient 1.900 Euro netto, in Schweden ist das nicht viel. „Hier bei der Müllabfuhr verdient keiner mehr.“
Am Ende navigiert sie mich über eine noch von Bürgermeisterin Hermansson initiierte Riesenbaustelle zum Bahnhof: „Ich mag die Kräne, denn das ist Fortschritt!“ Wir reden noch über die Abwanderung von Arbeitern zum Rechtspopulismus. Einer ihrer Kollegen von der Müllabfuhr sitzt im Gemeinderat – aber eben für die Schwedendemokraten. Ein wenig kann sie das verstehen: „Identitätspolitik gut und schön, Homosexuelle sollen ihre Rechte haben, auch Feminismus ist wichtig, aber männliche Malocher mittleren Alters – die werden ein bisschen ignoriert.“ Ich verabschiede mich und weiß in diesem Moment, dass mein Porträt dieser Arbeiterführerin vollkommen unkritisch ausfallen wird. Kritisieren ließe sich allenfalls, dass Göteborgs Ex-Bürgermeisterin auf die Frage, was ich im Göteborger Kulturleben nicht verpassen darf, partout nichts einfällt. Dass ihr Lebenslauf politisch Gold wert ist, das versucht Ann-Sofie Hermansson gar nicht erst abzustreiten. Ich glaube, ihr Potenzial ist enorm.
Kommentare 5
Feiner Artikel. Leidenfrost ist ne Perle.
Ich hätte nur statt "Sie wurde von zwei Muslimen verklagt." geschrieben: "Sie wurde von zwei muslimischen Männern verklagt."
>>Sie bekommt mit, dass der Gesellschaft oft das Verständnis für harte körperliche Arbeit fehlt:<<
Allerdings - das ist schon lange (auch hier) so.
>> „Ein Arzt sagte zu einem Kollegen, seine Beschwerden könnten genauso vom Golfspielen kommen.“<<
Was zu beweisen war... ;-)
Dank für den Artikel - ich hatte null Kenntnis von diesen Vorgängen.
*****!
als old-schooler - komplette koran-lektüre zw. 12. u. 14. lj. 1970 bis 72 - hätte ich "moslems" verwendet , so wie nie u. nimmer "mutante" - aus dem sci-fi-genre für genetisch entgleiste "humanoide" u.ä. - für virus-mutationen/-subtypen/-varianten.
Setzt sich in der Gemeinde niemand für sie ein? War sie vielleicht eine miese Bürgermeisterin? Nein, es ist die Feigheit vor dem Feind. Und der Feind ist immer der gleiche, unabhängig von Herkunft und Religion.
Ich habe in meinem auch nicht mehr so jungen Leben noch nie derartig fabrigneue Biomülltonnen gesehen. Spätestens nach drei Wochen sehen die völlig anders aus. Und auch die Arbeitsbekleidung scheint nagelneu aus dem Laden gekommen zu sein. Das Foto erinnert mich eher an die Politikerfotos, die ihre Nähe zur Arbeitswelt möglicher Wähler darstellen wollen. Schneeweiße Helme und Jacken, wenn sie in den Berg einfahren. Und unten werden dann die Gesichter aus lauter "Verbundenheit" mit den Bergleuten und vor allem aber für die Fotos ein bisschen mit Kohle eingeschmiert. Solche Sachen halt.
Mit 57 als Frau vom Schreibtisch weg ans LKW-Lenkrad und an die meist sehr schweren Tonnen? Gegen jeden Biorhythmus 3.30? Und die Restzeit bis Arbeitsende vor lauter Kraftüberschuss im Kraftraum zubringen? Dazu würden mich ja mal Meinungen von BSR-Leuten interessieren.
Ich jedenfalls war in meinen Endzwanzigern nach acht Stunden körperlicher Schwerstarbeit zunächst mal fertig. Schweden muss das reine Paradies sein. Wenigsten für Müllfahrerinnen.
Der Bürgermeister von Halle/Saale jedenfalls setzt nach seinem Rauswurf seine Karriere als Rettungsschwimmer im Freibad fort. Das scheint mir dann vor allem im Winter, wenn niemand zum Retten da ist, eine realistischere Berufswahl zu sein. Polts Bootsverleiher wäre natürlich auch eine überlegenswerte Sache.