Unlängst war Martin Leidenfrost auf den Spuren von Piroschka unterwegs. Fand aber stattdessen nur eine Kollegin von Piroschka im Puffbezirk von Levél in Ungarn, der gar nicht weit weg liegt von der Grenze nach Österreich. In Levél gab es sonst nicht viel. Eine katholische Kirche, eine evangelische dazu, drei Tankstellen, einen Windpark und eben die EXPO-Häuschen für Piroschka und die Ihren. Aber das ist Geschichte. Die Gegenwart heißt Rajko Djuric und meint den Roma-Schriftsteller in Belgrad, der 34 Bücher geschrieben hat und im Januar ins serbische Parlament gewählt wurde. Ihn wollte Martin Leidenfrost unbedingt treffen, also trieb ihn der Ostwind diesmal ins Hotel Moskva.
Er hat einige der maßgeblichsten Bücher geschrieben, die über die Roma erschienen sind, über ihre Sprache und Herkunft, über ihren Glauben, ihre Mythen, ihre Kultur. Nachdem ich Djuric gelesen hatte, musste ich Djuric kennenlernen.
Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf. Fragen, auf die man nicht kommt, wenn einem das Thema die Roma immer nur in Gestalt der gängigen Schablonen begegnet ist, mit akkordeonseliger Nomaden-Romantik oder verkniffener Sozialpädagogik. Fragen wie diese: Ist die politische Schlagkraft dieses zahlenmäßig großen Volkes auch deswegen so gering, weil es aus Indien eine Art Kastensystem mitgebracht hat, eine Aufsplitterung in Stämme und Unterkasten?
Rajko Djuric ist Präsident des Internationalen Roma-PEN-Zentrums, war von 1990 bis 2000 Präsident der Internationalen Romani-Union und hat 34 Bücher geschrieben. Im Januar wurde er ins serbische Parlament gewählt. Er war mein Mann.
Wir trafen uns in Belgrad, im repräsentativen Café des Hotels Moskva. Aus Djurics Standardwerk Ohne Heim, ohne Grab wusste ich, dass manche Roma ungern Auskunft über ihre Kultur geben, seit die "Rasseforscher" der Nazis Romani lernten und sich so das Vertrauen der Sinti und Roma erschlichen - zur Vorbereitung des Genozids. Ich fragte Djuric eingangs, ob er einem Gadjo, einem Nicht-Rom, alle Fragen beantworten würde. Er lachte und sagte ja.
Djuric, der am 3. Oktober 60 wird, war elegant gekleidet, er hat bei unserem Treffen viel geraucht und viel gelacht, seine Goldzähne blitzten auf. Er gehört dem Stamm der Gurbeti an, sein Vater war Geiger, auch Rajko hätte Geiger werden sollen.
Als er sich aber - gefördert von Titos Bildungssystem - für eine akademische Laufbahn entschied, hätten sich die Gurbeti keineswegs von ihm distanziert. "Das ist bei den Kalderas stark ausgeprägt. Dort bestimmen die Väter den Weg, besonders den Weg der Söhne."
Djuric glaubt an die Macht der Bildung. Er nennt sich einen "68er", hat 1968 gegen Tito demonstriert und 1969 mit einem Roma-Verein begonnen. In den Siebzigern war er einer der führenden Vertreter der internationalen Roma-Bewegung, in den Achtzigern Kulturchef der Zeitung Politika.
"Am 15. Oktober 1991 habe ich mich im Fernsehen gegen Milosevic geäußert, zwei Tage später war meine Wohnung demoliert." Djuric ging ins Exil, lebte von 1991 bis 2004 in Berlin. Als es immer schwieriger wurde, Roma-Projekte in Deutschland zu finanzieren, entschloss er sich zur Rückkehr. Zunächst arbeitete er als Journalist, dann ließ er sich als Vorsitzender der jungen Roma-Partei Unia Roma Srbije anwerben.
Das Wahlergebnis im Januar hat ihn enttäuscht. Von den 250 vergebenen Mandaten erhoffte sich Djuric sechs, errungen hat er eines. Er schätzt die Zahl der Roma Serbiens auf 600.000 - 14.000 haben ihn gewählt. Warum so wenig? Als Gründe nennt er: Mängel im serbischen Rechtsstaat, kein Geld, keine Unterstützung sowie die Tatsache, dass die Roma im Unterschied zu anderen ethnischen Minderheiten über das ganze Land verstreut sind.
Keinen Schaden sieht der frisch gewählte Abgeordnete darin, dass noch eine weitere Roma-Partei kandidiert hat. Wie in weiten Teilen Osteuropas üblich, kaufen die etablierten Gadje-Parteien Kontingente von Roma-Stimmen. Bei den vorangegangenen Wahlen habe man eine Stimme bereits für 50 Cent gekriegt. "Diesmal hat eine Stimme schon zwei Liter Öl und fünf Kilo Mehl gekostet. Die Preise sind durch die Ankunft von zwei Roma-Parteien gestiegen."
Djuric hat sich der Fraktion Manjina angeschlossen, in der zwei Ungarn aus der Vojvodina, zwei Muslime aus dem Sandschak und ein Albaner aus Presovo sitzen. Manjina bedeutet "Minderheit", mehr verbindet die sechs Fraktionskollegen nicht, sie hatten erst eine Sitzung. Die Roma Partija, die sich ebenfalls mit Mühe ein Mandat erkämpft hat, ist außerhalb der Fraktion verblieben.
Über Srdjan Sajn, den Vorsitzenden, wollte Djuric lieber nichts sagen. "Vertritt Sajn einen anderen Stamm?", habe ich Djuric gefragt. Er hat das entschieden verneint, sein Konflikt mit Sajn sei ein politischer. Er musste sogar nachdenken, welchem Stamm der ungeliebte Rivale angehört. Den Gurbeti nicht, wahrscheinlich den Lovara.
Mit der Zeit begriff ich, dass Djuric bei aller Liebe zum sozio-ethnischen Diskurs Politiker geworden ist. Was er in seinen Büchern geschrieben hat, nahm er nicht zurück, verortete es aber in der Vergangenheit. Er war ein Dutzend Mal in Indien. "Wer Interesse an den Roma hat, kann nichts verstehen, wenn er nicht in diesen Spiegel gesehen hat."
Historisch betrachtet, gehört die überwältigende Mehrheit der Roma-Gemeinschaften einer einzigen Kaste an, zu der Kaufleute und Handwerker, aber auch Musiker und Wahrsager zählen. "Die Konflikte zwischen den Unterkasten können aber so schlimm sein wie zwischen den Kasten. Es gibt Hunderte Unterkasten, das ist wie im Dschungel", erläuterte mir der Soziologe Djuric. Für die Gegenwart seien diese Strukturen kaum noch relevant, schränkte der Politiker Djuric ein. Die Roma seien mancherorts als Unternehmer erfolgreich und ließen sich nicht mehr von überkommenen Traditionen und Tabus bremsen.
Im Moskva begann der Barpianist zu spielen. Nachdem er zwei Stunden meine Fragen beantwortet hatte, musste Djuric zur nächsten Sitzung weiter. "Ich brauche Action. Das ist meine moralische Pflicht. Ich tue das für mein Volk, für meine Kinder."
Viele seiner Antworten waren unbefriedigend, doch sehe ich mit etwas Abstand ein, dass er nicht anders antworten konnte. In Osteuropa leben Millionen Roma unter elenden Bedingungen, diskriminiert und verfolgt. Ein paar Förderprogramme sind angelaufen, etwa die "Dekade der Roma-Inklusion", finanziert von der EU. Hätte Djuric irgendetwas gesagt, woraus sich ein Zusammenhang zwischen der Kultur und dem Elend der Roma konstruieren ließe, wäre das Wasser auf die Mühlen rassistischer Politiker gewesen, welche die Roma mit Arbeitslagern und kurzem Prozess bedrohen. Er hätte seinem Volk geschadet.
Gerade weil Djuric mit politischer Vorsicht sprach, mochte ich die Geschichte, mit der er mir das Wertesystem der Roma illustrierte. In der Geschichte kommt eine Fee und erfüllt drei freie Wünsche. "Die Deutschen wünschen sich: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Die Roma würden das nie sagen. Sie würden sagen: Glück."
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