Eins, zwei, drei, Belgicko

Europas Ausgang In der Ostslowakei gehen die lateinische und byzantinische Kultur ineinander über - wahrgenommen wird die Region allenfalls als Brennpunkt des Roma-Elends

Daniela verdreht nicht einmal mehr die Augen. Die junge Slowakin quittiert das Thema nur noch mit einem ausdruckslosen Blick, sie kann es nicht mehr hören. Die ehrgeizige Abiturientin ist soeben von einem Sprachkurs aus Mittelengland zurückgekehrt: "Die Briten wissen nicht einmal, dass es die Tschechoslowakei nicht mehr gibt. Aber dass es den Zigeunern bei uns schlecht geht, davon hatten sie gehört."

Sooft es die Ostslowakei in die internationalen Medien schafft, tut sie das mit Bildern verwahrloster Roma-Kinder, die zwischen fensterlosen Hütten im Schlamm spielen. Der bereits gewohnten Tristesse wurde im Frühjahr eine dramatische Facette hinzugefügt, als wütende Roma Supermärkte plünderten, nachdem die liberale Regierung in Bratislava die Sozialhilfe gekürzt hatte. Daniela würde es angesichts der Prägekraft dieser Bilder vorziehen, aus einem vollkommen unbekannten Land zu kommen.

Ihre Heimatregion heißt Vychod, was im Slowakischen zweierlei bedeutet: Osten und Ausgang. Der Vychod ist der Osten eines Landes, das seit den radikalen Reformen des Kabinetts von Premier Mikulas Dzurinda von den Investoren geliebt wird und von westeuropäischen Politikern wie Gerhard Schröder oder Michel Sarkozy gern mit Sanktionen ob des unlauteren Wettbewerbs bestraft würde.

Nach Jahren der Hochkonjunktur liegt das Wachstum auch im Herbst 2004 noch bei vier Prozent - nach dem Stand der Dinge könnte die Slowakei als erstes osteuropäisches EU-Land die Kriterien für die Einführung des Euro erfüllen. Was Steve Forbes ein "ökonomisches Kraftwerk" nennt, ist im slowakischen Osten allerdings eine klappernde Mühle.

Dass die Arbeitslosigkeit über 20 Prozent liegt, lässt sich wenigstens zum Teil mit dem hohen Bevölkerungsanteil der Roma erklären, die in gewissen ländlichen Siedlungen zu 100 Prozent von staatlicher Fürsorge abhängen. Zu denken gibt das Lohnniveau: "Niemand im ganzen Vychod bezahlt seine Kellnerinnen so gut wie Edo", brüstet sich Daniela mit ihrem Bruder, der in der Kleinstadt Humenné eine Bowling-Bar betreibt. Edo zahlt umgerechnet einen Euro pro Stunde, andere Lokalbesitzer finden für 60 Cent Personal.

Von der ungarischen, ukrainischen und polnischen Grenze eingeschlossen, bildet der Vychod den schlauchförmigen Ausgang des neuen Europa. In dem ethnisch gemischten Landstrich sind nationale, religiöse und sprachliche Identitäten so komplex, dass manch einer die Segel streicht. Besonders die jungen Leute zimmern sich ihre Identität lieber aus Versatzstücken westlicher Konsumkultur, als der ungeklärten Frage nachzuspüren, warum der ostslowakische Dialekt "fakovski" genannt wird. Sie tun es darin dem berühmtesten Vychodniar aller Zeiten gleich, der sein Heil in Campbell-Suppendosen fand - Andy Warhol.

Rusinen, Ruthenen, Rusnaken, Lemken, Karpatorussen, Karpatoukrainer

Nach dem Auszug der Zipser Deutschen sind dem Vychod vier Nationalitäten verblieben: Slowaken, Roma, Ungarn und Rusinen, die ihre Sprachen Slowakisch, Romanes, Ungarisch und Rusinisch pflegen und sich zu fünf verschiedenen christlichen Konfessionen bekennen.

Mit den Mitteln der Statistik sind nur die Ungarn mühelos zu erfassen: Sie pochen nachhaltig auf ihre Minderheitenrechte, wählen geschlossen die Ungarnpartei SMK und bilden mit ihrem landesweiten Stimmenanteil von zehn Prozent seit langem eine verlässliche Stütze der Regierung. Die Ungarn leben in nennenswerter Zahl auch in Kos?ice, der einzigen Großstadt des Ostens.

Da sich die Roma bei Volkszählungen aus Furcht vor Diskriminierung meist als Slowaken deklarieren, kann ihre Zahl nur geschätzt werden - auf 300.000 bis 400.000 in der gesamten Slowakei. Ein Anteil von mindestens 15 Prozent an der Bevölkerung des Vychod erscheint realistisch, zumal in den westlichen Regionen der Slowakei nur wenige Roma leben. Die sind in mehr als 300 Siedlungen auf den Vychod verteilt. Die größte Dichte und die elendsten Orte findet man um Pres?ov und weiter westlich davon - in dem pittoresk herausgeputzten Zips, wo die abgezogenen Deutschen nach 1945 viel Platz hinterließen.

In den abgeschiedenen Gebirgsregionen des äußersten Nordostens trifft man auf eine kleine und weithin unbekannte Ethnie, die sich gelegentlich selbst nicht geheuer ist. Entsprechend viele Namen hat man dieser ostslawischen Nationalität schon gegeben: Rusinen, Ruthenen, Rusnaken, Lemken, Karpatorussen und Karpatoukrainer. Rusinen leben über mehrere Länder verteilt, die meisten von ihnen im angrenzenden Transkarpatien, der westlichsten Provinz der Ukraine. In der Slowakei sprechen nicht mehr als 100.000 Einwohner Rusinisch, und im Lauf der Geschichte haben sich die Erben dieser mittlerweile kodifizierten Sprache mal den Russen, mal den Ukrainern, mal den Slowaken zugehörig erklärt.

Die Rusinen - aber auch viele Slowaken des Vychod - feiern die Messe nach byzantinischem Ritus, der im Vergleich zu den Riten des Westens abweisender, auch mystischer erscheint. Die Transsubstantiation - die Wandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi - wird hinter der Ikonostase vollzogen, einer Ikonenwand, die den Blick der Gläubigen auf das Allerheiligste versperrt. So hören die Gläubigen während der Wandlung nur die Gesänge der Priester, das Geheimnis der Eucharistie wird der Sichtbarkeit entzogen.

Die griechisch-katholische Kirche erlebt eine kleine Renaissance im Vychod. Sie entsprang einst einem historischen Kompromiss, den die römisch-katholischen Herrscher des polnisch-litauischen Königreichs mit ihren orthodoxen Untertanen schlossen: Griechisch-katholisch zu sein, das bedeutet, die Autorität des Papstes anzuerkennen, ohne auf einige Besonderheiten des östlichen Ritus zu verzichten. Die Kommunion wird in beiderlei Gestalt gereicht - und die Priester dürfen heiraten.

Obwohl sie der griechisch-katholischen Kirche zahlenmäßig stark unterlegen ist, setzt die orthodoxe Kirche der wiedererstandenen Konkurrenz einen beispiellosen Bauboom entgegen: Mehr als 60 durchaus stattlich proportionierte Kirchen wurden in den vergangenen Jahren errichtet, weitere sind in Planung. In vielen Dörfern überragt nun die orthodoxe Kirche alle anderen, so auch die gerühmten griechisch-katholischen Holzkirchen, doch bleibt die Schar der Gläubigen verschwindend klein. Über die Finanzierung dieser augenfälligen Offensive schweigen sich die Kirchenoberen aus, doch gibt es Hinweise auf großzügige Spendenflüsse aus den orthodoxen Bruderländern Russland und Ukraine.

Es gab Zeiten, da lag der Vychod nicht so gänzlich außerhalb der Wahrnehmung Fremder, denn dort, wo die kleinen, steilen Weinberge des Vihorlat auf die südliche Ebene blicken, zog vor nicht allzu langer Zeit das Ostslowakische Meer Touristen in seinen Bann. Eine Million pro Jahr, nicht nur Slowaken, auch Tschechen, Polen und andere. In den sechziger Jahren als künstliches Wasserreservoir angelegt, scheint an der Zemplínska Sirava 2.200 Stunden pro Jahr die Sonne über 20.000 Gästebetten, zu Preisen, die man in der EU günstiger kaum finden wird. Wäre da nicht der modrige Gestank des Sees, der den Ruf ruiniert hat. Wenn auch das Chemiewerk am Zufluss Laborec die Produktion mittlerweile umgestellt hat, krankt die Zemplínska Sirava an dem Geburtsfehler, dass die Kanäle, die für Zufluss und Abfluss des Sees sorgen sollen, viel zu wenig Wasseraustausch zustande bringen. So war es vorzugsweise der organische Abfall der Urlauber selbst, der sich ungeklärt in den See ergoss und das Ferienparadies kollabieren ließ.

Die meist sanftgebirgige Landschaft der Ostslowakei ist von einer Vielzahl unsichtbarer Grenzen vollzogen, die so unbewusst wie unüberwindlich sind. Um ihr modernes westliches Leben ohne Anflüge von Verzweiflung durchziehen zu können, setzt sich die slowakische Mehrheit einem kollektiven Autismus aus, der nur ein Ziel kennt: die dunkelhäutige Minderheit nicht in den Blick zu bekommen. Es gilt die richtige Fahrtroute zu wählen, wenn man das neue grellfarbige Einfamilienhaus mit dem hart erarbeiteten Kompaktwagen verlässt. Die Gärten der Mittelklasse sind klein, der Rasen peinlich gepflegt, zur Umgrenzung zieht mancher dem schmiedeeisernen Zaun nun doch lieber die Mauer vor.

Das typische Dorf, die typische Kleinstadt des Vychod existiert zweifach - als adrette slowakische Gemeinde und als abseitige Roma-Siedlung, oft in feuchte Senken gepresst, fern der großen Durchzugsstraßen. Wo sich nicht ein Bahndamm oder ähnliche Barrieren anbieten, kommt es vor, dass die beiden Entitäten keine hundert Meter voneinander entfernt liegen. Dann kommt es einem Wunder gleich, wenn der andere unsichtbar bleibt; ein Wunder, das sich tagaus, tagein ereignet.

Innerhalb der Roma setzt sich das subkutane Grenzregime fort, nur erschließt es sich für den Außenstehenden nicht. In den Scharen herumtollender Kinder ist nicht gleich zu erkennen, dass die Roma in einem Kastensystem leben, in dem die unterste als unberührbar gilt. Diese Ausgestoßenen werden Degesi genannt - Hunde-Esser. Da ihre Vorfahren vor Generationen wohl rituell Hunde verzehrt haben, haftet dieser Gruppe das Etikett des Unreinen an. Die Mutter einer höheren Roma-Kaste würde ihr Kind aus dem Kindergarten nehmen, müsste es dort mit einem Degesi-Kind spielen.

Mit derartigen Differenzierungen wäre der Fremde, der "Luník IX" besucht, überfordert. Weit draußen auf einem Hügel über Kos?ice gelegen, stellt die Plattenbausiedlung ein Ghetto für 6.000 Roma dar, in das ein Slowake nicht im Traum seinen Fuß setzen würde. Riefe man von hier ein Taxi, man bekäme keines. Macht man sich dennoch auf den Weg, den üblichen Warnungen zum Trotz, passiert erst einmal gar nichts.

Und dann kommen die Kinder, eins, zwei, zwanzig, eine Traube von Jungen, eine Traube von Mädchen. Eines hat erkannt, dass in der Umhängetasche ein Fotoapparat steckt. Nun wollen sie fotografiert werden, einzeln und in der Gruppe, zeigen ihre Karatekünste, machen Liegestütze, rufen ihre Namen, erinnern sich ihrer Deutschkenntnisse: "Eins, zwei, drei, Belgicko." Dass Roma mit ihren Kindern bettelnd durch ganz Europa ziehen, ist bekannt. Diese Kinder hingegen wollten Geld dafür bezahlen, fotografiert zu werden.


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