Energetische Führerin mit eisernem Blick

Die Ukraine vor Parlamentswahlen Haben die großen Drei eine dritte Chance verdient?

In weniger als drei Jahren erlebt die Ukraine die dritte "alles entscheidende" Wahlschlacht. Aus drei Wahlgängen ging 2004 der US-freundliche Viktor Juschtschenko als Präsident hervor. Im März 2006 gewann sein Orange-Lager zwar die Parlamentswahl, brachte aber keine Orange-Koalition zustande und musste dem Russland freundlichen Rivalen Janukowitsch das Amt des Premiers überlassen. Am 30. September wird nun auf Wunsch von Juschtschenko wiederum das Parlament (Rada) gewählt.

Im Zentrum Kiews sind Zeltlager und die Belagerung von Amtsgebäuden von der Ausnahme zur Regel geworden, die Materialschlachten brachten das Berufsbild des bezahlten Parteifahnen-Schwenkers und Demonstranten hervor. Präsident Juschtschenko selbst hat für eine Stunde Demonstrieren Honorarsätze von 60 bis 100 Griwna (9 bis 15 Euro) genannt - für Studenten und Erwerbslose aus dem orangen Galizien (Juschtschenko) oder dem blauen Donbass (Janukowitsch) ist das attraktiv.

Wenn das wahlmüde Volk mit dem 30. September überhaupt eine Hoffnung verbindet, dann die auf Klärung der Lage. Die Umfragen divergieren stark, doch erscheint als Quersumme der Demoskopie eine Prognose am wahrscheinlichsten: Es ändert sich nichts Wesentliches.

Die drei bestimmenden Formationen des aufgelösten Parlaments dürften auch wieder die neue "Rada" dominieren, in der gleichen Rangordnung wie bisher. Bis zu 40 Prozent werden der Partei der Regionen von Premier Janukowitsch zugetraut, der traditionellen Vertretung des industriellen Ostens und der Schwarzmeerküste.

Im Frühsommer sah es kurz danach aus, dass sich wenigstens das Stärkeverhältnis innerhalb des Orange-Lagers umdrehen könnte. Mit dem durchgefochtenen Neuwahlbeschluss hatte der als entscheidungsschwach geltende Juschtschenko das Momentum auf seiner Seite, und sein loses Parteienbündnis, das diesmal als "Mega-Block" mit dem angeberischen Namen Unsere Ukraine-Nationale Selbstverteidigung antritt, schob sich in einigen Umfragen vor die orange Konkurrenz des Blocks Julia Timoschenko.

Es kam aber, was kommen musste: Wie jedes Mal, wenn die Schlacht naht, läuft die begnadete Ausnahmepolitikerin Timoschenko zur Höchstform auf. Passend zu ihrer altukrainischen Flechtkranz-Frisur ließ sie sich von den besten Schneiderinnen des Landes eine elegante Neufassung der Volkstracht nähen und stieg in den Ring. Die weiblich-einfühlsame Herz-Symbolik ihrer "Beauty"-Partei BJUT und der eisern entschlossene Blick der energetischen Führerin werden ihre Wirkung kaum verfehlen - die Umfragen sehen BJUT gegen 30 und Juschtschenkos Unsere Ukraine unter 20 Prozent.

Damit ist noch nichts entschieden. Partei der Regionen, BJUT und Unsere Ukraine sind allesamt rechtszentristische Formationen, gesponsert von Firmenclans und mit kaum vorhandenem ideologischen Profil. Alle drei hatten in den zurückliegenden drei Jahren Anteil an der Macht, alle drei haben jeweils einmal den Premier gestellt.

Die Erfahrung zeigt, dass die ukrainische Machtfrage meist von überlaufenden Abgeordneten oder Kleinparteien entschieden wird. Im hoch emotionalen Dreikampf Juschtschenko - Janukowitsch - Timoschenko können die Kleinparteien nur wenig Terrain behaupten, doch je mehr von ihnen die Dreiprozenthürde nehmen, desto mehr "goldene Aktien" sind im Spiel. Laut Umfragen könnten sie alle vor den Toren der Rada bleiben - bis zu vier Kleinparteien haben aber gewisse Chancen.

Wenn die Regierung weniger aus Wahlen denn aus Kuhhändeln nach der Wahl hervorgeht, wirft das die Frage auf, wie es um die Qualität der ukrainischen Demokratie bestellt ist. Russlands Präsident beschrieb diese im Juni so: "Es gab eine Hoffnung auf die Jungs in der Ukraine, aber die haben sich einfach vollkommen diskreditiert. Dort läuft es einfach auf eine vollkommene Tyrannei zu. Vollständige Verletzung der Verfassung, aller Gesetze und so weiter."

Abgesehen davon, dass Wladimir Putin möglicherweise nicht den geeignetsten Sachverständigen für Demokratie abgibt, hatte er in einem Punkt recht. Demokratie und Rechtsstaat gehören zusammen, und in der Ukraine haben demokratisch gewählte Politiker dem ohnehin schwach entwickelten Rechtsstaat den Boden entzogen.

Der Vorwurf trifft beide Lager, seit Frühjahr aber besonders Präsident Juschtschenko. Sein Neuwahlerlass, unter den Bedingungen einer eben erst in Kraft getretenen Verfassungsänderung ohnehin juristisch heikel, wurde von Janukowitschs Parlamentsmehrheit angefochten. Belagert von rivalisierenden Demonstrationszügen, zog sich das Oberste Gericht zur Beratung zurück.

Als sich abzeichnete, dass die politisch besetzten Richter den Präsidentenerlass für verfassungswidrig erklären könnten, setzte Juschtschenko einige von ihnen ab, legte Wahlerlässe nach, die neuerlich angefochten wurden. Im Ergebnis war das Gericht gelähmt, seine Autorität ruiniert.

Angesichts solcher Handlungen erscheint es nicht nachvollziehbar, warum Juschtschenkos Lager in Teilen der westlichen Presse immer noch das "demokratische Lager" genannt wird - als wären die russischsprachigen Janukowitsch-Wähler des Ostens und Südens automatisch Feinde der Demokratie.

So sehr Putins Hinweis auf die ausgehebelte Verfassung des südlichen Nachbarn zutrifft, so sehr geht die Prognose einer ukrainischen Tyrannei daneben. In der Ukraine sind die wechselseitigen Vorwürfe der Wahlfälschung weitgehend verschwunden, die Medienlandschaft ist relativ plural, und innerhalb der politischen Szene gilt mehr denn je das alte Prinzip "zwei Ukrainer, drei Hetmane".

Nachdem sie im Jahr nach der orangen Revolution eingebrochen ist, läuft die Wirtschaft wieder gut. Im Durchschnitt beträgt das Wachstum jährlich sieben Prozent, so dass die jeweils Regierenden vor den jeweiligen Wahlen kleine Wohltaten verteilen.

Niemand fühlt sich bei sozialpolitischen Versprechen im Wahlkampf von Schamgefühl gebändigt: Viktor Juschtschenko, der mit einer eigenen Plakatserie wirbt, verspricht für das zweitgeborene Kind eine enorme Geburtenprämie - das Durchschnittseinkommen mehrerer Jahre. Julia Timoschenko bezieht sich auf den großen Vertrauensbruch der Übergangszeit, als die sowjetische Sparkasse die Spareinlagen der Bürger einfrieren ließ. Dürfe sie nur zwei Jahre regieren, bekämen die damals Enteigneten ihr Geld zurück.

Der ehemalige Parlamentspräsident Wladimir Litwin, der sich mit seiner Minipartei als vielseitig einsetzbarer Königsmacher empfiehlt, fordert einen unrealistisch hohen Mindestlohn: "Ich möchte, dass die Männer den Geschmack des Geldes kennen, und nicht nur den Diwan, die Flasche Bier und die Fußballübertragung."

Die meisten dieser Ankündigungen sind durchsichtige Manöver von oligarchisch geprägten Parteien. Die eigentliche Anomalie der ukrainischen Demokratie liegt vielleicht darin, dass die Linke beinahe restlos vor die Hunde gegangen ist. Die Sozialisten haben mit ihrem abrupten Seitenwechsel vom Orange ins Blaue Lager ihren einst soliden Ruf zerstört, die Kommunisten fungieren als Janukowitschs anspruchslose Steigbügelhalter, und die Progressiven Sozialisten, welche als einzige die von einem Viertel der Wähler gewünschte ostslawische Staatenunion fordern, werden wohl wieder draußen bleiben. Der Tiefpunkt der ukrainischen Linken dürfte mit dieser Wahl erreicht sein. Dass in der neuen Rada kein einziger linker Parlamentarier sitzt - auch das ist nicht mehr ausgeschlossen.


Das ukrainische Parlament nach der Wahl vom März 2006

ParteiErgebnis in % (in Klammern Mandate)

Partei der Regionen (Janukowitsch)32,1 (186)

Block Julia Timoschenko22,3 (129)

Unsere Ukraine (Juschtschenko)13,9 (81)

Sozialistische Partei (Alexander Moros)5,7 (33)

Kommunistische Partei (Pjotr Simonenko)3,7 (21)


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