Es ist in Dnjepropetrowsk ein Plattenbau mit fünf Etagen, in dem Julia während der sechziger Jahre aufwächst. Der Vater verlässt die Familie, Julia ist eine gute Schülerin, niemand in der Klasse baut die Kalaschnikow so schnell zusammen wie sie. Mit 18 Jahren, im ersten Semester Wirtschaftskybernetik, heiratet sie, mit 19 bekommt sie ihre Tochter Jewgenija. Das Sowjetkind, dessen Mädchenname Grigjan für armenisch gehalten wird, aber auf eine lettisch-ukrainische Herkunft verweisen dürfte, erwirbt den hochukrainischen Familiennamen Timoschenko. Auch trifft es sich gut, dass der Schwiegervater in der Dnjepropetrowsker Gebietsbehörde für Filmangelegenheiten zuständig ist. Nach fünf unauffälligen Jahren in der Maschinenbaufirma L
a Lenin macht die 28-jährige Julia ihr erstes Geschäft auf – eine Videothek. Dort steht sie zwar unter Aufsicht von Ehemann und kommunistischem Jugendverband, aber sie hat als Einzige die angesagten VHS, in denen Freddy Krueger Teenager mit seinen Fingernägeln durchbohrt. Die Saga beginnt.Mit 35 firmiert Julia Wladimirowna schon offiziell als Chefin, und zwar des größten ukrainischen Gasunternehmens, der Vereinigten Energiesysteme. Die brünette Schönheit trägt ihr Haar offen, lässt sich als kalt-verführerische Business-Lady abbilden. Man nennt sie die Gasprinzessin. 1996 wird sie erstmals ins Parlament gewählt. Erst jetzt lernt sie, wie sie selbst zugibt, die Amtssprache Ukrainisch. Sie wird dem machthabenden Klüngel zugerechnet, an dessen Spitze ein Dnjepropetrowsker steht: Präsident Leonid Kutschma. 1999 wird sie Vizepremier für den Energiesektor und kennt das Geschäftsmodell der Branche: Man produziert nichts, sondern verschachert zu einem brüderlichen Preis bezogenes russisches Gas mit enormen Gewinnmargen. 2001 wird sie gefeuert und sitzt einige Wochen in Untersuchungshaft wegen der Geschäftspraktiken ihrer Energiesysteme und fordert seither den Skalp von Präsident Kutschma.Revolution in OrangeKaum geht ihr das Ukrainische über die Lippen, adoptiert sie eine historische Flechtkranzfrisur und macht sich blond, fertig ist die nationale Ikone. 2002 zieht sie erstmals mit ihrer Partei ins Parlament ein, die Vaterland heißt, meist aber unter dem Namen Block Julia Timoschenko antritt. Sie steht für sieben Prozent der Wählerschaft. Die schweren Jungs lachen sie aus. Ihre Stunde schlägt bei der Präsidentenwahl 2004, als der populäre Nationalkonservative Viktor Juschtschenko gegen einen schwachen Bewerber des Kutschma-Lagers antritt – Viktor Janukowitsch. Die Wahlkommission in Kiew ruft Janukowitsch zum Sieger aus, die Opposition rennt mit ihrer Orangefarbenen Revolution dagegen an. Die begnadete Demagogin Timoschenko brilliert als Einpeitscherin. Als im Kreis der Organisatoren gefragt wird, ob man ein Blutvergießen in Kauf nehmen dürfe, bezieht die ukrainische Jeanne d’Arc unmissverständlich Position und beschreibt die Hunderttausenden, die in der Winterkälte demonstrieren, als Biomasse.Die Revolution in Orange siegt ohne Gewalt, Juschtschenko wird Präsident, Timoschenko Ministerpräsidentin. Sie ist 44, ernährt sich nur von Trinkjoghurt und nennt sich eine Entscheidungsmaschine. Neben ihr nimmt sich Juschtschenko rasch als Schwächling aus, er feuert sie nach sieben Monaten, doch ist sie inzwischen von einer Randfigur zur beliebtesten Politikerin der Ukraine aufgestiegen.Sie transportiert sozialpopulistische Versprechen mit einer Bildsprache von Weizenähren und Bauernstickerei und zwingt Tausende Parteisoldaten, in engen weißen Sweatern mit einem roten Herz aufzumarschieren. Juschtschenko mag sie als Götzenbild einer Sekte beschimpfen, aber da ist er politisch schon tot, während Julias Führerpartei bei jeder Wahl zulegt. Von 2007 bis 2010 ist sie ein zweites Mal Ministerpräsidentin und fährt als situative Politikerin immerzu Kampagnen, bei denen der Bandit von gestern schon morgen ihr Berater sein kann. Selbst einen harten Knochen wie Wladimir Putin versteht sie, sich geneigt zu machen.Ihre Regierungszeit fällt freilich in eine Krise, die sie durch halsbrecherisches Finanzgebaren noch verschärft. Im Januar 2010 will sie Präsidentin werden. Ihr Gegenkandidat ist Janukowitsch, der Unterlegene von 2004. Trotz ihrer miserablen Bilanz unterliegt sie mit einem Abstand von nur 3,5 Prozent, akzeptiert die Niederlage nicht, findet aber für eine neue Revolution keine Revolutionäre.Instinkt der StraßeDer Sieger lässt die Rivalin schon im ersten Jahr seiner Präsidentschaft strafrechtlich verfolgen. Im Oktober 2011 wird sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. Janukowitsch setzt das einzige erkennbare Ziel seiner Präsidentschaft aufs Spiel – die Assoziierung mit der EU. Er hat Timoschenkos ebenfalls inhaftierten Innenminister Jurij Luzenko nach der Hälfte der Strafzeit begnadigt, doch die sich nun abzeichnende Begnadigung Timoschenkos zögert er bis zum letzten Moment hinaus.Der Grund ist ganz einfach: Janukowitsch hat den Instinkt eines Straßenjungen aus dem Donbass. Gewiss, das Schicksal der autoritären Ukrainerin bewegt demokratische Westler viel mehr als ukrainische Wähler. Gewiss, mit einer Timoschenko als leidender Märtyrerin haben nur wenige Ukrainer Mitleid. Und gewiss, unter den drei Kandidaten, die Janukowitsch laut Umfragen bei Wahlen schlagen könnten, hat Timoschenko den kleinsten Vorsprung vor dem Amtsinhaber. Aber da ist dieser Instinkt. Janukowitsch weiß, wie Timoschenko redet und begeistert. Sie darf 2015 nicht gegen ihn antreten, das darf nicht sein. Er glaubt, er würde verlieren.