Gagausien - Republik des Staubs

Ostwind Kolumne: Episoden aus Osteuropa (1)

Ohne sich viel um Transformationstheorien und -strategien zu scheren, wird Martin Leidenfrost fortan in einer neuen Freitag-Kolumne alle 14 Tage Episoden aus Osteuropa schildern. Er wird über Banker und Bürger in Kiew ebenso berichten wie über slowenische Kohle oder ein Disney-Schlösschen im bitterarmen Transkarpatien. Auch Sektengurus in Russland hat er besucht, die sich nicht nur vorstellen können, bei den Präsidentenwahlen 2008 anzutreten, sondern dabei auch zu gewinnen.

Die Gagausen könnten die Herren der Welt sein: Gagausisch ist dem Türkischen eng verwandt und schafft eine natürliche Nähe zum turksprachigen Raum; das Russische, das die christlich-orthodoxen Gagausen im Alltag bevorzugen, erschließt ihnen die postsowjetische Welt; und die vielen Gagausen, die auch noch die rumänische Staatssprache beherrschen, erlernen mühelos romanische Sprachen.

Die Welt nimmt freilich keine Notiz von diesem 180.000-Seelen-Ländchen Gagausien, das sich 1991 für unabhängig erklärt hat und seit 1994 Mitglied der Organisation von der UNO nicht anerkannter Staaten (UNPO) ist. Gagausien hält die Insignien seiner bescheidenen Staatlichkeit trotzdem hoch, unterhält Sonderbeziehungen mit der gelegentlich spendablen Türkei und hat sich ansonsten mit der moldawischen Zentralregierung arrangiert.

An der Fernstraße von Chisinau nach Süden ragt das einzige Grenzmonument auf, das sich die auf vier Territorialflicken verstreute Republik geleistet hat. Das Pro-Kopf-Einkommen der Gegend, die einmal Bessarabien hieß, erinnert an afrikanische Werte. Man käme der Wahrheit um einiges näher, ersetzte man die moldawischen und gagausischen Flaggen durch die schwarz-gelbe Trademark eines auf rasche internationale Überweisungen spezialisierten Finanzdienstleisters: Sie betreten hiermit Western-Union-Country.

Zwei Jahre nach meinem ersten Besuch kehre ich nach Comrat zurück, in das flache Großdorf, das Gagausien als Hauptstadt und dem "Baschkan" als Amtssitz dient. Jeder, der jemals in Comrat war, berichtet von Staub, von ungreifbaren Schwaden wehenden, rieselnden, in den Organismus dringenden Staubs. Doch Comrat hat sich entwickelt, die Fußwege im Zentrum sind gepflastert, an windstillen Tagen scheint der Staub gebannt.

Demnächst wird ein neuer Baschkan gewählt. Die geostrategischen Vorlieben, die man den Kandidaten nachsagt, spiegeln die Verworrenheit des moldawischen Problemknäuels wider, das aus Comrater Perspektive noch um einige Knoten verwickelter erscheint. Soll Gagausien weiter mit der kommunistischen Zentralregierung Moldawiens sympathisieren? Aber ist diese nicht allzu unglücklich zwischen den feindseligen Machtpolen EU und Russland gelandet? Kommen die Türken als arglose Kultursponsoren oder streben sie nicht eher nach Islamisierung ihrer versprengten Brüder? Und wie soll man sich zu den russophilen Transnistriern stellen, die ihre Abspaltung von Moldawien mit blutigem Ernst durchgezogen haben? Bewundert, achtet, ignoriert - isoliert man sie?

Jede Debatte endet unweigerlich bei der einen Glaubensfrage: War es der Amtsinhaber oder sein Herausforderer - war es der alte Baschkan oder der junge Bürgermeister, der das Geld für die Pflasterung der Gehwege gab?

In der Nacht meiner Ankunft laden junge Gagausen in den neuen Stadtpark ein, zu Wodka und selbst gekeltertem Rotwein. Stolz erzählen sie vom internationalen Gagausen-Kongress, der vor kurzem in Comrat stattgefunden habe, mit gagausischen Delegierten aus 14 Ländern. Sie singen zur Gitarre, zuerst die Klassiker des Sowjetpops, irgendwann nur noch Afghanistan-Lieder, tieftraurige Epen vom Sterben am Hindukusch. Die 20jährigen Sänger verwechseln Österreich mit Schweden und würden auch Afghanistan nicht auf der Karte finden, doch sie haben diese Lieder von ihren Vätern gelernt, und so sehr sie ihre Coolness bemühen, werden sie beim Singen von der Rührung übermannt - als wären sie selbst Veteranen der Kriege am Hindukusch.

Von der langen Nacht noch bewegt, fahre ich am nächsten Tag ins flache gagausische Land hinaus, nur zwei Dörfer weiter zunächst. Alsbald werde ich zu einem Dorffest eingeladen, der Bürgermeister und sein Vize bestehen darauf, dass ich bleibe, um mich in einem beschwingten Triumphzug den Bürgern zu präsentieren. Es geht in das fensterlose Separée des besten Cafés, wo der beste Wein kredenzt wird. Nach ein paar Gläsern gesteht der Bürgermeister, dass er an den Vize übergeben will. Es macht ihm keine rechte Freude mehr, das sympathische Winzerdorf zu regieren.

Der Vize drückt sich weniger diplomatisch aus: Tomay hat etwa 5.000 Einwohner, von denen mindestens 1.000 außer Landes sind. Sie rackern in Moskau und Portugal auf dem Bau, arbeiten auf türkischen Märkten, machen italienische und spanische Appartements sauber. Die Aktiven zwischen 20 und 40 sind abwesend, das ganze Dorf hängt am Tropf ihrer Überweisungen. Ihre Kinder gehen nicht zur Schule, hängen in den Cafés von Tomay ab, setzen den Western-Union-Bareingang - siehe oben - in Alkohol und Drogen um.

Am Ende führt mich der Bürgermeister in sein Büro, das von einem Lenin-Gemälde, einer Madonnen-Ikone und einer türkischen Fahne beherrscht wird. Es gibt ein paar Flaschen Wein für die Reise. Noch ein Problem, das Tomay quält: Seit Russland moldawischen Wein boykottiert, fährt die örtliche Produktion nur noch auf einem Rad. Doch findet der Wein seinen Weg nach Russland, wirft der Vize grinsend ein - mit bulgarischen und australischen Etiketten. Wenn sich in diesen komplexen Zeiten irgendjemand zu bewähren versteht, denke ich in diesem Moment, dann müssten das eigentlich die Gagausen sein.


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