Glasgow von unten

Schottland Angela geht anschaffen, um ihren dreijährigen Sohn durchzubringen. Beim Unabhängigkeitsvotum im September will sie mit Ja stimmen
Ausgabe 26/2014
Die Ja-Kampagne wirbt, was das Zeug hält, ist aber noch nicht erfolgreich
Die Ja-Kampagne wirbt, was das Zeug hält, ist aber noch nicht erfolgreich

Foto: jeff j. mitchell/getty images

Dieser Tage lernte ich den unglücklichsten Menschen meines Lebens kennen. Ich ging durch das Glasgower Viertel, das gezeichnet ist von der vielleicht niedrigsten Lebenserwartung Europas – Männer sterben in Calton mit 54. Es war später Abend, das durchaus gepflegte Wohngebiet menschenleer. Zunächst hörte ich nur schleifende Schritte, einen flachen Husten. Dann sah ich es auf mich zukommen, ein leichenblasses Wesen mit vorgebeugtem Vogelkopf, trotz knielanger Weste in der kühlen schottischen Sommernacht frierend. Die Existenz dieses Aliens erschreckte mich. Die Frau trappte an mir vorbei, drehte sich danach um, würgte mit Mühe einen Satz hervor. Sie bot mir Sex an. Sie hieß Angela.

Ich war wegen des „Glasgow-Effekts“ ins East End der größten Stadt Schottlands gekommen. Er wird mit Alkohol, Drogen, Gewalt, grundfalscher Ernährung, auch mit drogenbedingten Geisteskrankheiten erklärt. Ein Rätsel bleibt jedoch. Derartige Problemzonen gibt es auch anderswo in Europa, die Männer sterben deswegen nicht gleich eine Generation früher. Eine Besonderheit ist, dass das East End im Unterschied zum Rest Schottlands mehrheitlich katholisch ist, aufgrund der Zuwanderung irischer Industriearbeiter nach der großen Hungersnot in den Jahren zwischen 1845 und 1852.

Beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands, das für den 18. September vorgesehen ist und schon jetzt die Gemüter erregt, sind das Stimmen. Als Labour-Wähler hängen sie an Großbritannien, als Iren wollen sie ums Verrecken nicht für Loyalisten gehalten werden. In Calton gibt es eine Art Fanshop für Nostalgiker der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), in dem Werbematerial der Ja-Kampagne ausliegt. Nicht zufällig wurden die Hauptquartiere beider Lager in Glasgow aufgeschlagen, sowohl für die Anhänger von Better Together als auch für die von Yes Scotland.

Mit der Axt geschlagen

Ich spazierte zu Mittag durch das Einkaufszentrum Forge, benannt nach einem vor vielen Jahren geschlossenen Stahlwerk. Kaum Migranten, viele ältere Frauen. Ich fragte mich, was diese unfrohen Menschen charakterisiert. Ich sah nicht die reine Armut, jedenfalls ließen sich weiße Frauen von Asiatinnen die Fingernägel machen und in der Angel Brow Lounge künstliche Wimpern ankleben. Ich sah auch nicht nur schottische Blässe, einige junge Frauen hatten im Gegenteil braun-orange Flecken auf der gebräunten Haut. Nein, es war der Gang, der auffiel. Manche 20-Jährige ging schon merkwürdig hüftsteif. Viele hatten Krücken, Ältere hielten sich am Einkaufswagen fest. Die Menschen bewegten sich eckig, mechanisch, wie ferngesteuert.

Auch meine nächtliche Bekanntschaft Angela hatte einen solchen Gang. Obwohl ich ausschloss, ihr Sexkunde zu werden, folgte sie mir. Nun sah ich sie aus der Nähe. Sie war klein, hatte riesige Ohren, rotes Haar, der stierende Blick ihrer wasserblauen Augen war mir unheimlich. Wir kamen an einem Denkmal für den Weberstreik von 1787 vorbei, sechs Arbeiter waren bei diesem ersten Arbeiteraufstand auf schottischem Boden ermordet worden. Angela konnte nur mit Mühe sprechen, Leberschmerzen zwangen sie manchmal zum Hinsetzen. „Was ist mit dir?“, fragte ich. „Ich bin verkühlt.“ Sie habe einen dreijährigen Sohn, er bedeute für sie alles auf der Welt.

Ich dachte schon ans Abschiednehmen, da brach es aus ihr heraus: „Mein Vater hat meine Mutter mit der Axt geschlagen, sie verlor Unmengen Blut, danach hat er mich vergewaltigt. Er hat mich 13 Jahre lang vergewaltigt. Er ist der Vater meines Sohns.“ Wir standen an einer roten Ziegelwand, Autos fuhren vorbei, Angela weinte. „Ich habe versucht, mich aufzuhängen, mehrere Male.“ Das sei ihr erster Versuch in Prostitution. Sie müsse es versuchen, denn das Sozialamt habe ihr die Stütze gestrichen. Und das völlig unerwartet. Ich fragte, wie viel sie brauche. „20 Pfund für die Stromrechnung, zehn fürs Gas, zehn für Essen.“ Sie kämmte sich weinend die Haare. „Ich muss ein Business machen. Vorher gehe ich nicht nach Hause.“

An der Lungenmaschine

Ich ertrug das nicht länger. Als Angela mir versprach, nicht auf den Strich zu gehen, gab ich ihr das Geld. Sie nannte mich gerührt einen Gentleman. Jean-Paul hieß das Inzestkind, dessen Lunge sieben Mal täglich an einen Apparat gehängt werden musste, „ich habe ihn nach Jean Paul Gaultier benannt.“

Ich begleitete Angela zur Bushaltestelle. Sie hielt meine Hand, aber verquer, ihre äußere griff nach meiner äußeren Hand. So gingen wir durch Calton. Aus dem Pub, das ich eigentlich hatte aufsuchen wollen, kamen zur Sperrstunde junge Männer heraus. „Verrückte!“, murmelte Angela. Der Spaziergang wurde noch lang und quälend, mein Selbstgefühl eines guten Samariters schwand. Einmal fragte ich Angela nach dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum. „Ich werde zum ersten Mal wählen gehen“, antwortete sie, „und ich werde mit Ja stimmen. Ich bin Schottin. Ich fürchte nichts.“

Martin Leidenfrost schrieb im vorherigen Teil dieser Serie über das rumänische Schiltal, die Bergbauregion des Landes

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