Grenzgebiet: Durch den Belowescher Urwald schallt russisches Radio

Polen Zu Besuch im letzten polnischen Dorf vor der Grenze zu Belarus, wo der Grenzzaun jede Migration verhindert und die Armee zur stärksten in der EU werden will
Ausgabe 32/2022
Verhindern jegliche Migration: 187 Kilometer Grenzzaun
Verhindern jegliche Migration: 187 Kilometer Grenzzaun

Foto: Wojtek Radwanski/AFP via Getty Images

Das Innere des Belowescher Urwalds war immer mal wieder verbotenes Land. 2010, als ich die Staatsdatscha sehen wollte, in der die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine Ende 1991 die Sowjetunion liquidiert hatten, blieb mir der weißrussische Teil verschlossen. Einem Augenzeugen zufolge durfte der weißrussische Diktator Lukaschenko „mit seinem weißen Hubschrauber“ rein. 2021, als derselbe Lukaschenko mit zur Grenze gebrachten Migranten die EU zu destabilisieren suchte, schickte Polen die Armee in den polnischen Teil. Der Grenzstreifen wurde zur „Zone“. Die Bewohner vieler Belowescher Orte kamen nur per Polizeikontrolle rein und raus.

Mein Ziel, das letzte polnische Dorf Białowieża, ist erst seit Frühsommer wieder zugänglich. Grenzort war Białowieża vor 1945 nicht, aber deportiert, angesiedelt oder ausgetauscht wurde die Bevölkerung mehrmals. In Białowieża spricht man heute den Dialekt „Ruthenisch“, ein Weißrussisch-Ukrainisch mit stark polnischen und leicht russischen Einschlägen. Und Achtung, die Mehrheit ist orthodox – polnisch-orthodox.

39 Prozent zählen sich im Grenzkreis Hajnówka zur weißrussischen Minderheit. Der Kontakt mit Weißrussland sei aber vollkommen abgebrochen, erzählen sie mir im Weißrussischen Museum Hajnówka – wegen Lockdown, Aufstand, Ukraine-Krieg. Sie verkaufen ein T-Shirt „Kein Mensch ist illegal“, wollen damit aber durchaus nicht Migranten aus Asien und Afrika willkommen heißen, die noch im Frühling in Hajnówka gesichtet wurden. Der Slogan richte sich gegen das Misstrauen, das die polnische Mehrheit der ostslawischen Minderheit entgegenbringt.

Die Einfahrt in den Urwald ist erhebend. Schattiger Laubwald mit morsch liegenden Bäumen, Sonnenflecken so stark wie Richtscheinwerfer, ein rotes Cabrio überholt mich. Allerorten steinerne Denkmäler für den Bison, den „Imperator des Urwalds“. Früher kamen jährlich 100.000 Touristen nach Białowieża, jetzt nur 40 Prozent davon. Man sieht vorsichtige polnische Radfahrer und Büchsenbier kaufende Jungholländer. Alle anderen, auch viele Hiesige, fürchten diese Grenze.

Ich wandle durch den „Palastpark“, der zum Nationalpark gehört. Genau hier befand sich schon im 15. Jahrhundert ein Jagdgut der Jagiellonen, alle Abschüsse eines Jagdfestes von 1752 (18 Bisons!) sind auf einem kleinen Obelisken notiert. 1881 – 1894 baute sich der russische Zar genau hier ein Jagdschloss mit Teichen. Dahinter, auf einer Linie mit dem Gasthaus „Zum Bison“, hat die polnische Armee eines ihrer drei Białowieżer Camps. Die Streitkraft, die mit 1.250 in den USA und Südkorea bestellten Panzern zur stärksten Armee der EU aufsteigen will, sie biegt hier dauernd um die Ecke: joggend, Rucksäcke und Schlafsäcke tragend, entzündliche Tankwagen fahrend, teilmaskiert auf Jeeps.

„Die ersten Bewohner von Białowieża kamen aus dem Osten“, steht an der orthodoxen Kirche, die auf Russisch an die „Taufe der Rus 998 – 1988“ erinnert. Der Weg zur erst ab 1927 erbauten katholischen Kirche ist ein Gewaltmarsch von einer Stunde. Schmucke podlachische Holzhäuser, jedes zweite zu mieten. In den Läden, die einst Juden gehörten, wird jetzt Schnitzwerk (auch Matroschkas) und die Kunst einer Białowieżerin verkauft. Die junge Kunstverkäuferin erzählt in passablem Russisch: „Russisch habe ich ab der vierten Klasse in der Dorfschule gelernt.“ – „Warum wird hier nicht Weißrussisch gelehrt?“ – „Weil sie in Belarus lieber Russisch reden.“

Ich wandere in Richtung Urwald hinaus, der Grenze entgegen. Auf einer Straße durchs Nichts, zwei Kilometer vor dem nagelneuen 187-Kilometer-Grenzzaun steht ein Mahnmal für 1940 nach Sibirien deportierte Białowieżer. Es wird dunkel, die Stechmücken fressen mich, ich kehre um. Abendessen mit Bisongras-Wodka. Dann der Gewaltmarsch zurück. Aus einigen wenigen Holzhäusern fällt warmes Licht heraus. Ein malerisch verwahrlostes Haus wird laut beschallt, mit einem Radiojournal auf Russisch. Ich halte und lausche. Ein alter Suffkopp kommt heraus. Ich frage ihn, warum er russisches Radio hört. In einer Art Polnisch tut er so, als würde er null kapieren: Russisch, Weißrussisch, was soll das sein? Dafür schärft er mir ein: „Kaufen Sie beim Nachbarn keine Pilze und bei dem, der das Museum hat, keinen Alkohol! Der ist gepantscht, da kriechen Sie auf dem Hintern nach Hause!“ Ich verspreche ihm das und gehe weiter.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden