Im Regen durch Unteriberg

Schweiz Im einzigen Land Europas, das über die Pandemiepolitik abstimmt, folgt das nächste Plebiszit
Ausgabe 46/2021
Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Lausanne
Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Lausanne

Foto: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Es war im Juni, als sich bei einem Plebiszit 60,2 Prozent für ein Covid-19-Gesetz aussprachen. Nun wird das Volk am 28. November neuerlich gefragt. Die vom vorliegenden Gesetzentwurf geregelten Entschädigungen sind relativ unstrittig, die 3G-Zertifikatspflicht und die Angst vor einer zentralen QR-Datenbank verleihen dem Nein-Lager jedoch Flügel. Umfragen sagen weiter ein deutliches Ja voraus, sichtbar ist aber nur die Kampagne der Gegner.

Ich fuhr in zwei Dörfer, die im Juni am extremsten abgestimmt hatten: Denges in der französischsprachigen Waadt hatte mit einem Fast-Rekord von 80,1 Prozent für das Covid-19-Gesetz gestimmt, Unteriberg im Urkanton Schwyz mit einem Rekord von 87,8 Prozent dagegen. Ich kam an einem Regentag. Es regnete am Vormittag in Denges (1.548 Einwohner), und es regnete am Nachmittag in Unteriberg (2.321). Denges lag unauffindbar vor Lausanne, zwischen Genfersee, Autobahn und Gleisanlagen. Das Dorf als solches war längst abgerissen und durch breite Mehrfamilienhäuser ersetzt. Da die Parkplätze in der von Rathaus, Gasthaus und Großraum-Immobilien-Agentur gebildeten Ortsmitte Auserwählten vorbehalten waren, parkte ich auf den Gratisplätzen unterhalb der nüchternen evangelischen Kirche. Dort parkten alle. Ich saß lange im Wagen und beobachtete, wie einer nach dem anderen die Abkürzung durch die wasserdurchtränkte Fußballwiese nahm. Aha, dachte ich, den asphaltierten Umweg zur Ortsmitte nehmen sie nicht an – sich dabei aber die Halbschuhe gründlich zu versauen, das lassen sie mit sich machen.

Ich setzte mich zum Dorfwirten rein und las die 24 Heures. Der Bericht über die Demo frankophoner Maßnahmengegner vor dem Spital von Rennaz las sich wie eine Geistergeschichte: „Sie waren im Dunkeln versammelt.“ Während die Älteren in der Küche kundig Palästina durchnahmen, aß das Jungpersonal in der Gaststube quadratische Kleinpizzen. Alle drei glotzten dabei in ihre schräg aufgestellten Smartphones. Der weiße Küchenjunge begann unvermittelt zu reden, über Widerstand gegen Lockdowns und Zweifel am Impferfolg, eine doppelt geimpfte Person habe Covid und könne „sich nicht mehr bewegen“. Der schwarze Küchenjunge wippte zu unhörbarer Musik und sagte nie etwas.

Darüber gekritzelt: „Jude?“

Topografisch könnte man die Jasager von Denges „die da vorne“ nennen, die neinsagenden Unteriberger nennen sich „wir da hinten“. Unteriberg liegt 600 Meter höher und zwischen wolkenverhangenen Felsen. Die düster aufragenden Häuser waren so groß, dass sie mehreren Familien Platz boten. Aufwändig gemachte Tafeln verkündeten die Namen von 2020 und 2021 geborenem Nachwuchs: Enya, Lorena, Dunya, John, Henrik, Silas, Elias. In eine Schweizerfahne war „Freiheit Liberté Libertà Libertad“ eingeschrieben. Plakate verkündeten: „Massenüberwachung? NEIN.“ „Menschen diskriminieren? NEIN.“

Ich setzte mich auch hier zum Dorfwirt rein. Das war, so was gibts noch, ein verrauchtes Raucherlokal. An der Tür Aushänge mit Verhöhnungen von Gesundheitsminister Berset, bei meinem Eintreten verstummte die Tafel der Stammgäste. Die Wirtin, „das muss ja trotzdem sein“, scannte umgehend mein Covid-Zertifikat. Auf der Klotür hing ein Aushang, Bersets kahler Kopf war mit Krauselocken und Hitlerbärtchen bemalt. Darüber stand gekritzelt: „Jude?“

Während die Stammgäste nur noch unverfängliche Themen besprachen, las ich den Boten der Urschweiz. Eine Demo vor einem Regierungsgebäude war als putzige Posse beschrieben: „Sonnenschein für Maßnahmengegner“, „zwei Handörgeler und ein Polizist umrahmten den Anlass“. Vergnüglich war auch die Verhaftung eines Walliser Wirten nacherzählt, der 3G-Kontrollen verweigert hatte: 20 Polizisten, Wirt bei Fluchtversuch Schulter ausgerenkt. Eine kleine Notiz verkündete, dass die Theatergesellschaft Oberiberg wegen der geringen Impfquote die ganze Spielsaison absagt: „Man versteht, dass sich nicht alle für ein Theater mit finanziellem Aufwand testen lassen würden.“

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