In Goethes Sümpfen

Italien Eine rätselhafte Fäulnis bedroht das zweitgrößte Kiwi-Anbaugebiet der Welt. Die Krankheit ist nicht neu, aber sie breitet sich aus – warum, weiß keiner
Ausgabe 50/2021
Ging das Unheil vom Klimawandel aus?
Ging das Unheil vom Klimawandel aus?

Foto: Imago/Panthermedie

Die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe war ein alter Menschheitstraum. Caesar und Napoleon scheiterten daran, und auch Goethe wusste bei seinem Besuch 1787 keinen Rat, ließ sich aber vermutlich hier zu einer Szene in Faust II anregen: „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin / verpestet alles schon Errungene / den faulen Pfuhl auch abzuziehn / das Letzte wär das Höchsterrungene ...“ Noch um 1900 war der südlich von Rom gelegene Landstrich entvölkert und dank der tropischen Anopheles-Mücke mit Malaria verseucht.

Erst Mussolini legte die Pontinischen Sümpfe ab 1930 nach den Plänen des preußischen Offiziers Fedor Maria von Donat trocken. Er ließ sich mit Schaufel und nacktem Oberkörper fotografieren, als „cittá nuove“ bezeichnete Planstädte wie Latina, Pontinia und Aprilia anlegen und mit agrarisch unerfahrenen Hungerleidern aus der Emilia-Romagna besiedeln. Heute ist die Provinz Latina mit 561.000 Einwohnern ein höchst fruchtbares Prozent von Italien. Faust käme aus dem Staunen nicht heraus, wenn er sehen könnte, dass sich der faule Pfuhl in das zweitgrößte Kiwi-Anbaugebiet der Welt verwandelt hat. Der größte Produzent der „chinesischen Stachelbeere“ ist China, Neuseeland bloß der drittgrößte.

Doch irgendwas stimmt nicht, die auf mindestens 7.500 Hektar angebauten Kiwipflanzen sind krank. Die Wurzeln verdorren, die Blätter fallen ab. Noch beunruhigender: Obwohl die Kiwifäule schon seit dem Jahr 2000 auftritt, tappt die Wissenschaft – trotz einer Anfrage an die EU- Kommission 2011 und einer kürzlichen Konferenz von Phytopathologen – nach wie vor im Dunkeln. Bekannt sind die Namen der Bakterien (Pseudomonas syringae und viridiflava), man kennt aber nicht die Ursachen für ihren Siegeszug. Ging das Unheil von einer neuen Sorte gelber Kiwis aus? Oder vom Klimawandel?

Ich komme kurz nach der Kiwiernte ins Hauptstädtchen Latina. Etwas Faschismus-Nostalgie ist noch vorhanden, sonst wäre ein Bürgermeister, der ein verherrlichendes Mussolini-Mosaik in den Laubengang des Rathauses knallen ließ, 2007 nicht wiedergewählt worden. Die Bahnhofssiedlung Latino Scalo ist eine Kleinstadt für sich. Die meisten Straßen sind nach Pflanzen benannt, die bedeutendste nach Begonien. Einiges erinnert mich an südukrainische Sozialismus-Planstädte, in denen ich viel schöne Lebenszeit verbracht habe, denn die Pizzeria mit ihrer zu Tode lackierten Holzrindenwand würde besser nach Stepnogorsk passen, vor allem die brüchigen Betonplatten der Bürgersteige sind ein Déjà-vu.

Gelobt sei die Härte

Arabisch sprechende Obsthändler verkaufen neben sizilianischen Klementinen pontinische Kiwis. Ich finde die Früchte steinhart, bekomme aber erklärt: „Die werden so gegessen.“ Auch die Pizzeria-Frau lobt harte Kiwi, „kaputte und überreife werden gar nicht erst verkauft“. Der Portier im Bahnhofshotel, der für jeden Gast die quietschende Einfahrtsschranke öffnen muss, hat normalerweise Dutzende Erntehelfer aus Albanien, Rumänien oder der Ukraine im Haus, „dieses Jahr nur einen einzigen“. Kein Einheimischer kann die Krankheit der Kiwis erklären – und keiner findet sie besonders schlimm.

Am Morgen wandere ich durch die Kiwiplantagen. Die Ebene wird von schmalen, schlammgrasigen Kanälen entwässert, das Schilf ist schockierend hoch. Die Kiwifelder sind weitflächige Konstruktionen: Zwischen Betonstelen sind unzählige Metallstangen, Drähte und Plastikschnüre gespannt, um die sich in mannigfaltigen Drehungen die Pflanzen ranken. Die Blätter sind groß und dunkelgrün – und alle nicht gesund. Eine Rumänin führt gerade die Hunde ihrer pontinischen Herrschaft aus. Der Auf- und Abbau der Konstruktionen sei so aufwändig, verrät sie mir, dass viele ihrer Landsleute hier ganzjährig Arbeit finden. Auch sie kann sich die Kiwifäule nicht erklären: „Das ist wie mit Menschen, die plötzlich krank werden. Das kommt aus der Luft.“ Ich nehme die harte Kiwi aus den Pontinischen Sümpfen mit nach Hause, lasse sie vier Tage liegen, dann esse ich sie. Schmeckt nach Kiwi.

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