Interview ohne Abstand

Schweden Anders Tegnell, Europas umstrittenster Epidemiologe, wirkt zerbrechlich, ist aber ein sturer Hund und von seiner Corona-Agenda überzeugt
Ausgabe 39/2020
In Stockholm lässt sich Ende April ein 32-Jähriger das Konterfei Anders Tegnells tätowieren (siehe unten)
In Stockholm lässt sich Ende April ein 32-Jähriger das Konterfei Anders Tegnells tätowieren (siehe unten)

Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images

Es wurde gerade dunkel, als ich vor einem schwedischen Altenheim stand, in dem 25 von 65 Demenzpatienten an Corona gestorben waren. Ein vierstöckiger Block, der Eingang versperrt, nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht. Mitarbeiterin Asia Ahmed hatte einer schwedischen Zeitung erzählt: „Es war wie ein Horrorfilm. Viele Pflegerinnen waren selbst infiziert, man zog unerfahrene Aushilfen zur Vertuschung heran. Einige dieser Aushilfen drehten in der Tür um, als sie realisierten, dass sie mit Corona infizierte Menschen pflegen würden“. Das Heim „Tiergarten“ ist das älteste in Eskilstuna, zwei Bewohner teilten sich ein Badezimmer, es wird nun schrittweise geschlossen.

Ich trat näher. Stille, kein Zeichen von Leben, nur einmal schemenhaft der graue Kopf einer gebückten Frau. Die Informationen am Eingang waren in den Sprachen des Personals verfasst: Arabisch und Somali. Der Autoparkplatz war leer, am Personaleingang drei Fahrräder. Draußen hingen noch verwitterte, von Kinderhand geschriebene Quizfragen: „Wie viel Prozent von Schweden ist Wald?“ Das Heim Tiergarten liegt in Södermånland, eine Stunde von Stockholm entfernt. In der Region starben 850 Menschen pro eine Million Einwohner an Corona, in Stockholm waren es tausend. Viele kamen nie ins Spital. Sie wurden oft von ihrem Pflegepersonal angesteckt, meist prekär beschäftigten Ausländerinnen, die zwischen verschiedenen Pflegejobs wechseln, von „Vikarierinnen“. Qualifizierte Schwedinnen verdienen 2.800 Euro, unqualifizierte Filipinas oder Afghaninnen machen es für etwa 1.800.

Im Wohlfahrtsstaat Schweden überraschen diese Strukturen. Es war eine sozialdemokratische Regierung, die viele Altenheime zwischen 2000 und 2002 privatisieren ließ. Im Wahlkampf 2018 forderten die Sozialdemokraten ein Profitverbot für Private im Wohlfahrtssektor. Liberale und Zentrumspartei, deren Unterstützung die rot-grüne Minderheitsregierung braucht, haben jedoch nach der Wahl „liberale Reformen“ durchgesetzt: Es gibt eine Steuersenkung für die höchsten Einkommen, eine Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Schließlich dürfen private Altenheime weiter Profit abwerfen.

Pippi-Langstrumpf-Gegend

Danach wollte ich den umstrittensten Chefepidemiologen Europas befragen. Anders Tegnell, er ist der Initiator des schwedischen Sonderwegs: keine Grenzschließung, keine Schulschließungen, kein Zwangslockdown, der Staat setzte auf die Vernunft freier Bürger. Das funktionierte in vielen Bereichen gut, von einem Erfolg kann man angesichts des Sterbens in den Altenheimen allerdings schwerlich sprechen. Fast 5.900 Corona-Tote, das ist kein Erfolg.

Ich durchreiste Schweden und holte Meinungen ein. In den Antworten war viel Zögern, viel Unsicherheit. Die leidenschaftlichste Verteidigung des schwedischen Weges kam von einem somalischen Uber-Fahrer in Stockholm: „Es ist ein Unterschied, ob dir jemand sagt, du wirst sterben oder pass auf dich auf.“ Die schwedische Demokratie begeisterte den jungen Somalier. Die schärfste Ablehnung der Corona-Politik begegnete mir bei einem evangelikalen Paar, sie Iranerin, er Stockholmer, beide waren im Frühling selbst an Covid-19 erkrankt, „trockener Husten, hohes Fieber, kalte Füße“. Sie sprachen von „Triage-Listen für in mehrfacher Hinsicht kranke Alte“, „mit über 70 bist du in Schweden so gut wie wertlos“. Und sie verachteten Anders Tegnell: „Dieser Guru, dieser Hype! Leute liefen mit Tegnell-T-Shirts herum, ließen sich sogar sein Konterfei eintätowieren.“

Ich durchreiste vor allem die Provinzen Schonen, Södermånland und Småland, das bilderbuchschwedische „kleine Land“. Das waren unzählige Seen mit noch mehr Inselchen, hübsche farbige Holzhäuser, vor denen an elendshohen Masten lange schmale Schwedenfahnen aufgezogen waren und wehten. Die Bewohner rechneten mir Entfernungen in schwedischen Meilen – eine misst zehn Kilometer – vor. Es gab Versuche von Antworten: Schweden sei „eine Konsenskultur, wir wollen uns nicht zu sehr voneinander unterscheiden“, aber „auch eine Freiheitskultur, wir hatten eines der ersten Gesetze über Meinungsfreiheit“. Das waren Individualismus und Kollektivismus in einer verwirrend verzahnten Ausprägung.

In einem unbewohnten östergötländischen Nirgendwo fand ich einen „Badplats“, der Zeugnis ablegte von Offenheit, Individualität und Gemeinschaftsgeist in Schweden. Irgendwelche Enthusiasten hatten sich die Mühe gemacht, auf den 400 Meter langen Waldweg zum See einen Steg aus jeweils drei sehr schmalen und sehr langen Holzplanken zu bauen. Das war sinnlos und unpraktisch, man balanciert auf den durchhängenden glitschigen Balken wie ein Trapezkünstler, aber es war originell. Unweit des Badeplatzes erwartete mich eine Ausstellung über Spinnen, ein aufwendig hingezimmerter Grill und dahinter eine überdachte Truhe, gefüllt mit frisch geschnittenen Scheiten duftenden Birkenholzes. Zur freien Entnahme, für jedermann.

Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images

Ich fuhr zu Pippi Langstrumpf. Auf dem småländischen Bauernhof „Näs“, auf dem ihre Erfinderin Astrid Lindgren aufgewachsen war, sah ich das Vorbild von Pippis „Villa Kunterbunt“, auch die geräumige Veranda, auf der Pippis Pferd wohnt. Pippi, das allein lebende Waisenkind, ist im Grunde die typische Schwedin: Der durchschnittliche Schwede wohnt am liebsten allein, er zieht so früh aus der elterlichen Wohnung wie sonst kein Europäer, und im Sinne der Staatsideologie des Allein-Wohnens zogen die Sozialdemokraten in den 1960er Jahren das „Millionenprogramm“ durch – eine Million Wohnungen.

Corona verlief in Vimmerby mild, es gab keinen einzigen Todesfall. Mitte Juni bis Ende Juli fielen Deutsche in ihren Firmenlieferwagen ein, Schweden fühlte sich abenteuerlich an. Schwedens Corona-Maßnahmen wirken einerseits locker, so trägt fast niemand Mundschutz, andererseits wird penibel auf das Vermeiden von Menschenansammlungen geachtet. Der Entertainmentpark „Astrid Lindgrens Wärld“ hatte daher genau elf Tage geöffnet. Veranstaltungen mit über 50 Personen blieben auch im Sommer verboten, also sperrte der Spaßpark mit seinen 6.000-Zuschauer-Open-Air-Shows gleich wieder zu.

Ich fuhr in das Dorf des Gründers von Ikea. Ikea, das steht für: Ingvar Kamprad, seinen elterlichen Hof Elmtaryd und sein winziges Dorf Agunnaryd. Eine ausgeprägte Streusiedlung, alle zweihundert Meter ein rotes Holzhaus, Abstandhalten ergibt sich schon aus der Siedlungsform. In Agunnaryd kam Corona gar nicht an. Bei der Altstoffsammelstelle erzählte mir ein Fabrikarbeiter: „Ingvar kam jedes Jahr, saß auf der Terrasse des von ihm mitfinanzierten Cafés, immer mit Snus-Tabak unter der Lippe. Wenn sein uralter Volvo wieder nicht ansprang, schoben wir alle zusammen an.“ Der alte Geizkragen habe dem Dorf 60 Millionen Kronen gespendet. „22 Millionen davon gingen in die neue Seniorenresidenz da drüben.“

Tatsächlich, da drüben standen ein paar einfache Bungalows, und auf einer Veranda, die für Pippis Pferd zu eng wäre, saß tatsächlich eine Oma. Die Alten von Agunnaryd hatten Glück. Glück, das andere nicht hatten.

Wieder in Stockholm ging ich zu Anders Tegnells 93. „Corona-Pressträff“. Ungefragt bekam ich sogar ein Interview. Tegnell gibt nach jeder Pressekonferenz zehn bis 15 dreiminütige Einzelinterviews, in schöner schwedischer Gleichmacherei nimmt er alle dran. Die Tür der Gesundheitsbehörde „Folkhälsomyndigheten“ in Stockholm stand offen. Draußen hielten ein paar Demonstranten Kartons hoch, auf denen die hohen schwedischen Todeszahlen – hoch im Vergleich zu Finnland und Norwegen – verzeichnet waren. In Schweden ist alles andersrum: Während anderswo gegen die Beschneidung von Bürgerrechten im Namen des Virus demonstriert wird, wollen die Protestierer hier härtere Zwangsmaßnahmen.

Als ich Anders Tegnell erblickte, war ich bass erstaunt. Fotos zeigen ihn üblicherweise von unten, als rauen skandinavischen Hünen im Schafwollpullover, allein mit seiner freiheitlichen Corona-Strategie gegen den Rest der Welt streitend. In Wirklichkeit ist der 64-Jährige nicht besonders groß und ziemlich schmächtig. Wenn er nicht redet, faltet er die Hände nervös wie ein Prüfling.

Höfliche Norwegerin

Die Zahlen, die Tegnell vortrug, wiesen Schweden erneut als große Ausnahme aus. Während die Infektionen anderswo hochschnellten, verzeichnete Schweden in Woche 35 nur 1.335 Neuinfektionen, nur 1,2 Prozent aus einer Rekordzahl vorgenommener Tests. Eine schlüssige Erklärung fehlte, auch das im Frühling schwer betroffene Stockholm ist von Herdenimmunität weit entfernt. Der Sommer war demütigend, kaum ein Land ließ schwedische Touristen einreisen, nun hörte ich Genugtuung heraus, als neuerdings Tegnell die Schweden vor Auslandsreisen warnte. Er sagte: „Wir haben in Schweden eine andere Situation als in anderen Ländern Europas, weil wir nicht von einer Schließung der Gesellschaft zu einer Wiedereröffnung übergehen.“

Während Tegnell in der Lobby seine Interviews gab, interviewten sich im Saal die wartenden Journalisten gegenseitig. Ein schwedischer TV-Reporter, der für einen japanischen Sender drehte, fragte eine norwegische TV-Reporterin nach Norwegens Reaktion auf den schwedischen Weg. „Neugierig“, sagte sie, „ein bisschen überrascht“, und „wir wissen alle nicht, was richtig und falsch ist, und ob es richtig und falsch überhaupt gibt“. Als der Schwede rausging, fragte ich die Norwegerin, ob sie nicht gar zu höflich geantwortet hatte. Sie gestand mir das ohne Umschweife: „Wir haben uns gefragt, was verfickt noch mal tut ihr da? Wenn wir 120 Tote an einem Tag gehabt hätten, wären Norweger mit Mistgabeln aufmarschiert.“

Dann wurde ich in die Lobby gerufen. Tegnell trat ohne Mundschutz auf. Ich hatte nur zwei Fragen. Die erste: „Ich las über Sie, Sie hätten auch deswegen auf diese Strategie gesetzt, da Sie 2009 die Impfung von fünf Millionen Schweden gegen die Schweinegrippe durchsetzten, weswegen 500 Menschen an Narkolepsie erkrankten.“ Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Nein, das ist falsch.“ Aha, dachte ich mir, wenn er schweigt, wirkt er zerbrechlich, wenn er redet, erweist er sich aber als sturer Hund. Tegnell führte noch aus, die Schweinegrippe-Impfung sei sehr effizient gewesen, andere skandinavische Länder hätten es genauso gemacht, im Übrigen sei das nicht seine Entscheidung gewesen.

Ich stellte meine zweite Frage: „Ein wie großer Teil des Problems waren die Vikarierinnen in den privaten Altenheimen?“ Tegnell sagte: „Das war nur eines von vielen Problemen. Eine Kommission evaluiert das gerade.“ Ich hakte nach: „War die Privatisierung der Altenheime Ihrer Meinung nach ein Fehler?“ Das wollte er nicht bejahen, „private und staatliche Heime waren doch auf ähnliche Weise betroffen“.

Damit war ich fertig. Ich dankte dem schmächtigen Mann mit der festen Stimme und machte Platz für das nächste Medium. Wenn ich mein Tegnell-Interview rekapituliere, muss ich immer an die physische Nähe zwischen uns denken. Angenommen, ich hätte mich in Schweden angesteckt, dann wohl direkt bei Anders Tegnell während unseres Interviews. Niemand dort hielt einen geringeren Abstand.

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