Island geht es zu gut für die EU

Europa Die Ex-Ministerin Thorgerdur Gunnarsdóttir hofft vergeblich, dass ein EU-Beitritt wieder mehr Zuspruch findet
Ausgabe 29/2020

Als Island 2008 während der Finanzkrise fast bankrottging, sah es nach einem Express-Beitritt zur EU aus. Nach der Rücknahme des Aufnahmeantrags 2015 gingen 7.000 der 330.000 Isländer für Brüssel auf die Straße. Heute gibt es keine Aussicht auf einen Beitritt. Nur zwei der acht Parlamentsparteien sind dafür: die Sozialdemokraten, deren damaliger Vorsitzender einst vor den 7.000 sprach, nun aber als Vizedirektor des Europäischer-Wirtschaftsraum-Norwegen-Fonds in Brüssel verbeamtet ist, sowie die von der regierenden Unabhängigkeitspartei abgespaltene Reformpartei. Beide Formationen haben schon bessere Zeiten gesehen.

Die letzte aktiv glühende Pro-EU-Spitzenpolitikerin, die Chefin der Reformpartei, empfängt mich im Parteibüro hinter dem Parlament. Thorgerdur Gunnarsdóttir, 54, hochhackige Lederstiefel, ist eine betörend attraktive Zwei-Meter-Blondine. Sie ist allein schon durch einen in den USA unbekannten Sport mit Europa verbunden: Ihr Mann Kristján Arason, ähnlich blond und gut aussehend, war ein weltweit gefragter Handballer. Sie lebte mit ihm in Deutschland (Gummersbach) und in Spanien, ein Sohn ist bis heute Profihandballer in Magdeburg.

Thorgerdur Gunnarsdóttir war selbst Nationalspielerin und „erste weibliche Schiedsrichterin Islands“. Ihr Mann, nach einer Trainerlaufbahn Banker bei der Kaupthing-Bank, hatte bei deren Notverstaatlichung während der Finanzkrise ein peinliches Problem: Er war 900 Millionen isländische Kronen schuldig, die er sich bei der eigenen Bank zum Kauf von Anteilen an derselben geliehen hatte.

Ich werde die Pro-Europäerin danach fragen müssen. Zunächst aber: Warum ist sie im isländischen Nichtsommer so braun gebrannt? Ihre Antwort ist mehrteilig: der Hund, das Golfspiel, im Landhaus werden Pferde gehalten, „mein Ur-Ur-Ur-Großvater war ein Baske aus Biarritz“, wegen der hängengebliebenen französischen Seeleute „sind die Leute an der Ostküste überhaupt dunkler“.

Ich provoziere sie: „Was haben Sie mit Europa? Plattentektonisch sind wir hier in Amerika.“ Thorgerdur Gunnarsdóttir lacht: „Reden Sie nicht darüber! Wir sind ein europäisches Land, die USA unter Donald Trump haben nichts Europäisches an sich.“ Schon der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) „hat unsere Gesellschaft revolutioniert – Verbraucherrechte, Justizsystem, Transparenz“. Es gebe „bessere Restaurants“ und „ein besseres Wohnen“. Sie teilt Macrons EU-Vision und verehrt Angela Merkel. „Gott steh uns bei, wenn Polen und Ungarn nicht in der EU wären!“ Island ist von der Bevölkerung her eines der kleinsten Länder weltweit. „Unternehmer sagen, das ist ein Handicap für uns, eine Achterbahnfahrt.“ Die Reformpartei will daher auch den Euro. Die jetzigen Regierungsparteien hingegen – Linksgrüne, bürgerliche Unabhängigkeitspartei und Agrarier – „haben gemeinsam, dass sie gegen die EU sind. Diese Regierung ist sehr konservativ, sie mauert das bestehende System ein“, glaubt sie. Ich will wissen, warum die EU so an Zustimmung verloren hat. Sie zählt auf. Erstens: „Icesave“, der Konflikt um europäische Sparguthaben. „Obwohl uns das EFTA-Gericht gerettet hat, gab „Icesave“ den EU-Gegnern Auftrieb, die verbreitet hätten, die Scheißengländer, die bösen Ausländer wollen uns melken!“

Skandal und Karriere

Schließlich die Fischer, darunter seien viele vehemente EU-Gegner. Als sie elf Monate lang Fischereiministerin war, habe sie das zu spüren bekommen. Und dann sei da noch „die ziemlich rasche Erholung der Wirtschaft von der Bankenkrise“, ohne EU-Hilfen. Ich frage sie: Was könnte die Stimmung wieder in Richtung EU drehen? Sie setzt zu einer flammenden Europarede an und sagt eher zögernd: „Vielleicht wenn die Wirtschaft schlecht laufen würde. Arbeitslosigkeit, soziale Schwierigkeiten ...“

Jetzt noch die Frage nach dem Mann. Einige Kaupthing-Banker wurden wegen Betrugs zu Haftstrafen verurteilt, die Bank hatte ihren eigenen Anteilseignern Kredite in Milliaden-Euro-Höhe gegeben. Ihr Mann blieb allerdings unbehelligt. Sie winkt ab und meint untertreibend: „Er war nur dritte Liga“, doch habe der Skandal ihrer politischen Karriere sehr geschadet. „Ich zog mich für eine Weile aus der Politik zurück und arbeitete für die Handelskammer.“ An der Demo der 7.000 nahm sie als Privatperson teil. Ihr Mann ist nach wie vor in der Branche tätig, nun bei der Centra Corporate Finance, die Firmen bei großen Finanztransaktionen berät. Ich frage die Pro-Europäerin noch: „Gibt es in Island das Vorurteil, dass die Banker für die EU sind?“ Sie schüttelt entschieden den Kopf: „Nein!“

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