Karlspreis für Wolodymyr Selenskyj: Vom lausigen Präsidenten zum Feldherrn
Europa Der ukrainische Präsident erhält den Karlspreis. Das findet nicht nur Beifall. Unser Reporter traf Wolodymyr Selenskyjs Lehrerinnen in Krywyj Rih, fand dessen Villa in der Toskana – und wundert sich, was nun über den Ex-Comedian gesagt wird
Seit dem 24. Februar 2022 ein anderer Mensch: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine und Karlspreis-Träger 2023
Foto: Kenzo Tribouillard/AFP/Getty Images
Seit dem 24. Februar 2022 meide ich jede Diskussion über Wolodymyr Selenskyj. Als Reporter verfolgte ich seine politischen Anfänge, sprach mit seinen Lehrerinnen in der Schule Nr. 95 von Selenskyis Geburtsstadt Krywyj Rih und fand im toskanischen Nobelbadeort Forte die Marmi, wo komischerweise auch Moskauer Oligarchen und Putins Schwester ihre Sommerfrische zu verbringen pflegten, seine nicht deklarierte Villa. Der Präsidentschaftskandidat behauptete, er habe das dezente Haus bloß zum Parken von überschüssigem Cashflow erworben; was mir die unmittelbaren italienischen Nachbarn erzählten, erinnerte aber verblüffend an Familie Selenskyj.
Auffällig war noch, dass der Darsteller und Produzent der
en Nachbarn erzählten, erinnerte aber verblüffend an Familie Selenskyj.Auffällig war noch, dass der Darsteller und Produzent der beliebten Comedy-Truppe „95. Kwartal“ im Jahr vor der Präsidentschaftswahl 2019 ein Dutzend Flugreisen nach Genf und Tel Aviv unternahm – je nachdem, wo der übel beleumundete ukrainische Oligarch Ihor Kolomojskyj gerade residierte.„Der nervt“, ist oft zu hörenKurzum, meine Hoffnungen konnte Selenskyj nicht enttäuschen. Außer vielleicht jener, mit der er einen Gutteil seiner 73-Prozent-Wählerschaft überzeugte – mit der Hoffnung auf Frieden im separatistischen ostukrainischen Bergbaurevier Donbass. Auch diese Hoffnung wurde enttäuscht.Dann kam der 24. Februar 2022, und die himmelschreiende Ungerechtigkeit des russischen Angriffskrieges ließ alles, was vorher geschehen war, klein und unwesentlich erscheinen. „Der nervt“, höre ich die Leute sagen, „jetzt will er schon wieder Waffen!“. Ich denke nur: Ich schaue seine abendlichen Videobotschaften im grünen Polo auch nicht mehr, aber was soll der Präsident eines angegriffenen Landes denn anderes machen?Rollenspiel auf UkrainischSelenskyj war vor dem 24. Februar ein lausiger Präsident. Ukrainische Politik hatte seit jeher den Charakter eines Rollenspiels, in dem russische Muttersprachler aus sowjetisch geprägten Großstädten in hübsch bestickten Trachtenhemden ihr frisch angelerntes Ukrainisch zum Besten gaben. Regierende wie Leonid Kutschma, Julija Tymoschenko und Wiktor Janukowytsch lernten überhaupt erst bei ihrem Eintritt in die ukrainische Politik Ukrainisch, und Selenskyj setzte diese Tradition fort. Ausgerechnet der professionelle Stand-up-Komiker überzeugte schauspielerisch am wenigsten. Der neue Staatspräsident wirkte unauthentisch, lümmelhaft, verkniffen, unwürdig, drollig. Es war eine Qual, ihm zuzusehen.Im Amt hatte er nicht mehr aufzubieten als seichten Glotzen-Populismus, eine ostentative Geringschätzung demokratischer Institutionen und die Überführung der öffentlichen Verwaltung in eine Smartphone-App. Schon ab dem zweiten Regierungsjahr nahm seine Herrschaft autoritäre Züge an.Er tauchte in den „Pandora Papers“ aufVieles an ihm ist schillernd, ambivalent, um nicht zu sagen zwielichtig. Seine jüdische Herkunft, die ihn immun machen sollte gegen die russische Behauptung einer „nazistischen Ukraine“, hielt er vor dem Krieg geheim. Für einen, der antrat, um korrupte Abgeordnete mit der Kalaschnikow niederzumähen, hatte er erstaunlich viele Korruptionisten an Bord. Er tauchte in den „Pandora Papers“ auf. Er gestand Kolomojskij in der Regierungsfraktion eine ganze Gruppe von Abgeordneten zu, distanzierte sich aber zunehmend von seinem Förderer und nahm ihm sogar den ukrainischen Pass ab.Ohne Zahl waren die Geheimdienstaffären unter Selenskyj: da war ein russischer Maulwurf, selbstzerstörerische Aggressionen gegen die ungarische Minderheit in Transkarpatien, eine „Spezialoperation“ gegen 33 dann in Belarus festgenommene Wagner-Söldner, die laut Opposition bewusst vom „prorussischen“ Selenskyj verbockt worden wäre. Dazu der seltsame Vorwurf eines Putschversuchs, gerichtet an den Meister geschmeidiger Arrangements mit jeder Art von Regierung, an den Donbass-Oligarchen Rinat Achmetow.Sein Biograf Sergii Rudenko führt Belege an, wonach sich Selenskyj schon vier Jahre vor seinem Eintritt in die Politik professionell über die Möglichkeiten einer politischen Karriere beraten ließ. Wenn das stimmt, dann hätte die Filmreihe Diener des Volkes als perfekte Vorbereitung seines politischen Aufstiegs gedient – ohne dass das Establishment den Witzbold auf dem Radar hatte.Headliner im russischen StaatsfernsehenWie seine Lehrerinnen in der Schule Nr. 95 bestätigten, fühlte er sich seit jeher zur englischen Sprache hingezogen, als Erwachsener brauchte aber ein gutes Jahrzehnt, um sich von der vielbeschworenen und vielverachteten, zumindest kulturell aber doch existierenden „Russischen Welt“ abzukoppeln. Es ist noch nicht allzu lange her, da trat er als Headliner in der quotenstärksten Silvestershow des Staatsfernsehens auf. Dieses Staatsfernsehen war das russische und dieser Staatskomiker trug noch den Namen Wladimir Selenskij.Dieser Tage, da der Internationale Karlspreis zu Aachen für das Jahr 2023 an „das ukrainische Volk und seinen Präsidenten“ verliehen wird, erinnern sich manche an diese Ungereimtheiten und an Selenskyjs Versagen vor Kriegsausbruch. Wollte man die gegen ihn kursierenden Vorwürfe maximal zuspitzen, könnte man fragen: Hat Wolodymyr Selenskyj, um seine scheiternde Präsidentschaft zu retten, Russland zu einem Krieg gegen die Ukraine provoziert?Meine Antwort lautet: Nein.Selenskyj wurde gewählt, weil er sich sogar „mit dem Teufel“ an einen Tisch zu setzen versprach, um den Krieg im Donbass zu beenden. Dieser Teufel trug denselben Vornamen wie er, und Selenskyj drängte gleich nach Amtsantritt auf ein Treffen mit Putin. Im Herbst 2019 ging er „in Vorleistung“ und setzte die bereits 2016 vereinbarte Truppenentflechtung in den Pilotgebieten Stanyzja Luhanska, Solote, Petriwske um.Er sagte: „Die Waffen werden abgegeben“Um die heikle Entscheidung zu rechtfertigen, fuhr er persönlich in die betroffenen Frontkommunen und wurde mit Demonstrationen ukrainischer Nationalisten unter dem Motto „Nein zur Kapitulation“ konfrontiert. Er blaffte damals Denis Yantar, Soldat des protestierenden rechten Regiments Asow, an: „Hör mal gut zu, ich bin der Präsident dieses Landes. Ich bin nicht irgendeine Lusche. Ich komme zu dir, und ich sage, die Waffen werden abgegeben. Da hast du mich nicht herumzukommandieren.“Was danach geschah, ist schwer begreiflich.Die triviale Erklärung wäre, dass Putin Selenskyj wegen eines allerdings recht albernen Sketches ablehnte, in dem der Komiker Selenskyj eine Urlaubsszene zwischen Putin und seiner Geliebten Alina Kabajewa imaginiert hatte. Die wahrscheinlichere Erklärung wäre wohl eher darin zu suchen, dass sich der neue Präsident einer ukrainischen Realität fügte, in der die Mehrheit zwar nicht nationalistisch wählte, Menschen mit Fronterfahrung aber über beträchtliches Druckpotenzial verfügten.Die Minsker VereinbarungRückblickend scheint es, dass der unerfahrene Neuling überraschend schnell resignierte und auf eine antirussische Politik umschwenkte. Zu dieser Kehrtwende mag das Gefühl beigetragen haben, in Moskau keinen Partner für einen Friedensschluss zu finden.Fakt ist, dass keine der beiden Seiten die Minsker Vereinbarungen je einhielt. Zwar wurde unter Selenskyj der Austausch von Kriegsgefangenen angekurbelt, und der Krieg im Donbass wurde 2020 und 2021 mit vergleichsweise geringer Intensität geführt. Doch von einer dauerhaften Lösung des Konflikts war bald keine Rede mehr.Dann folgte die Pandemie, der sich hermetisch isolierende Putin tauchte mit ein paar Geschichtsbüchern in einen Tunnel ein, so wie heute auch der Oberkommandierende der ukrainischen Armee einem Tunnelblick ausgesetzt ist, in dem nichts anderes mehr als das Militärische wahrnehmbar ist.Petition für Karlspreis-AberkennungDem Freitag liegt eine Petition vor, in der gefordert wird, Selenskyj den Karlspreis abzuerkennen, bevor er ihn bekommt. Die Autoren erheben eine lange Liste von Vorwürfen, die mir hastig zusammengeschustert erscheint, inhaltlich ungenau bis falsch.Man könnte die Kritik an Selenskyj leicht mit einem Verweis auf andere Träger des Karlspreises abtun. Unter ihnen finden wir: den Euro, Emmanuel Macron, den Griechenlandquäler Wolfgang Schäuble, den geschäftstüchtigen Eurolobbyisten Pat Cox, den vollkommen unbedeutenden Martin Schulz, den Jugoslawien bombardierenden Javier Solana und den die Invasion in den Irak vorantreibenden Tony Blair ... In dieser Gesellschaft macht sich ein Karlspreisträger Selenskyj vielleicht gar nicht so schlecht aus.Freilich muss erlaubt sein zu fragen, was Selenskyj für Europa getan hat, um einen der europäischen Einigung gewidmeten Preis zu verdienen. Da kann man sich das eine oder andere ausdenken, etwa die brüchige Hoffnung, dass Resteuropa bei einem Standhalten der Ukraine eine Zeit lang vor russischen Aggressionen bewahrt werden könnte. Grundsätzlich trifft aber zu, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet verteidigt. Und – wenn überhaupt – erst sehr nachgeordnet die geheimnisvollen „europäische Werte“.Die ukrainische GegenoffensiveWir können Selenskyj, diese dubiose Type, einfach nicht losgelöst sehen vom Schicksal seines blutenden Landes. Er ist eine eigene Kategorie, die schiere Wucht des Weltenbrandes lässt alles andere läppisch erscheinen. Dazu kommt, dass jenseits des Schlachtfeldes in der Ukraine keine Politik mehr existiert.Alles hängt vom Geschehen an der Front ab: Wenn die ukrainische Gegenoffensive, die laut Selenskyj noch ein wenig hinausgeschoben werden muss, laut den kremlnahen Kriegskorrespondenten Jewgenij Poddubny und Sascha Kots aber schon begonnen hat, in eine Art von ukrainischem Sieg mündet, kann er sich aussuchen, ob er bei der 2024 anstehenden Präsidentschaftswahl mit mehr als 73 Prozent triumphiert oder mit behaglichem Blick auf allerorten aus dem Boden schießende Selenskyj-Denkmäler den Vorruhestand genießt.Vom Milchgesicht zum FeldherrnFiele der Erfolg von Gegenoffensiven durchwachsen aus, müsste er um seine Wiederwahl kämpfen – vermutlich wiederum mit militärischen Mitteln. Und wenn die Ukraine verliert, wird er davongejagt wie ein räudiger Köter. Dann kann er froh sein, wenn man ihn nicht vor Gericht zerrt für sinnlose Verluste.Wolodymyr Selenskyj ist seit dem 24. Februar ein anderer Mensch. Das witzelnde Milchgesicht hat sich in einen rasanten Feldherrn verwandelt, und „das letzte Territorium Europas“ wurde im Schnelldurchlauf zu einem furchteinflößenden Nationalstaat zusammengeschweißt. Ob Selenskyj den Karlspreis bekommt oder nicht, ist in diesem Zusammenhang ziemlich egal. Nicht egal ist, wie viele Menschen bis zu einem hoffentlich gerechten Frieden noch sterben.Der Karlspreis für Wolodymyr Selenskyj, so meine ich, ist aus heutiger Sicht keine Schande, er ist aber auch keine Notwendigkeit. Man kann die Diskussion führen, ich werde sie weiterhin meiden.
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