Aufständische Mambets: Inszenierung, Intrige oder Aufruhr?
Kasachstan Das im Januar 2022 bei Unruhen angegriffene Regime des Präsidenten Tokajew hat sich gefangen. Immer noch stellt sich die Frage: Wer hat die Unruhen vor einem Jahr ausgelöst? Eine Gruppe in der Stadt Almaty beantwortet das klar und deutlich
4.300 Verletzte gab es bei den Protesten. Hier: Polizisten in Almaty im Januar 2022
Foto: epa/dpa
In den ersten Januartagen 2022 wurde Kasachstan von einem rätselhaften Aufstand erschüttert. Er begann als Protest gegen die verdoppelten Autogas-Preise in den Ölfördergebieten Westkasachstans, der Aufruhr sprang dann – obwohl im Südwesten nur wenige mit Autogas tankten – auf die traditionelle Metropole Almaty über und nahm dort rasch den Charakter eines gewaltsamen Umsturzversuchs an. Teils bewaffnete Männer plünderten Geschäfte im Zentrum, räucherten Regierungsgebäude aus und schossen auf die Polizei. Präsident Kassym-Schomart Tokajew rief Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses OVKS zu Hilfe, die innerhalb weniger Tage die Ordnung wiederherstellten und danach umgehend abzogen. Das Jahr
über ging es rätselhaft weiter: Tokajew zeigte sich keineswegs als dankbarer Vasall des Kremls, sondern stärkte seine Position gegenüber seinem Vorgänger Nursultan Nasarbajew. Er lehnte Wladimir Putins Annexionspolitik in der Ukraine ab und schien um den Nachweis einer prowestlich angehauchten Liberalisierung seines autoritären Regimes bemüht.Seltsame AhnengalerieIch ging im Herbst den Spuren der Unruhen nach, vorzugsweise in Almaty, wo es 160 der 225 amtlich bestätigten Toten des Aufruhrs zu beklagen gab. Die Wahrnehmung der sogenannten „Januar-Ereignisse“ war regional höchst unterschiedlich: Am russisch geprägten Nordkasachstan waren sie weitgehend vorbeigegangen, in der wenig betroffenen Hauptstadt Astana wurden sie gern als „Palast-Intrige“ unter Einsatz gedungener Schläger gesehen. In Almaty hingegen glaubten viele an einen authentischen Aufstand aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Die nebulöse Schuldzuweisung der Tokajew-Regierung – aus dem Ausland angeleitete „Terroristen“ hätten einen Staatsstreich versucht – hatte am wenigsten verfangen. Als Träger der Revolte identifizierte die russischsprachige Presse den ethnisch kasachischen Männertyp „Mambet“: ein ungehobelter, provinzieller Mann, häufig aus einer kinderreichen Familie stammend, nicht selten ein von der Pandemie ausgespuckter Binnenmigrant.Almaty empfing mich als ein Wunder der Natur: Ich überflog von Norden her eine vollkommen unfruchtbare Wüste, überflog den größten See Kasachstans, dessen Namen die neben mir sitzende Plüschpyjama-Kasachin nicht kannte, überflog dann noch einmal Wüste – und plötzlich war da ein kleinteilig grünes Oasen-Land mit malerisch gewundenen, baumgesäumten Wasserläufen. Durch tiefe Betonrinnen aus dem ins Stadtzentrum heruntersteigenden Hochgebirge bewässert, war Almatys Zentrum ein Flanier-Garten asiatisch aussehender, russisch sprechender und Bobo-europäisch herausgeputzter Menschen. Zwischen Dutzenden Straßenmusikanten und der Open-Air-Bühne eines Stadtfestes fand ich einen perfekten Guide: einen feingliedrigen Ziggy Stardust mit Epikanthus-Falte, der „Europa besser kannte als Kasachstan“, am Genfer See für den US-Tabakkonzern Philip Morris gearbeitet hatte und mit seinen moskowitisch-tatarischen und tadschikisch-persischen Ahnensträngen zwar amtlich als ethnischer Kasache galt, vor dem Erlernen der kasachischen Sprache aber zurückschreckte. Er würde sich schämen, seine Muttersprache mit Akzent zu sprechen. Er führte mich zum ikonischen Erinnerungsort der Januar-Ereignisse hinauf – zur weitgehend ausgebrannten und evakuierten Stadtverwaltung.Ziggy erklärte mir die Geschehnisse so: „Das ist eine Agglomeration von drei bis vier Millionen, und es gibt hier viele arme Menschen.“ – „Mambets?“, fragte ich. – „Ja, so nennt man sie oft, aber das sind auch Almatiner.“ Er selbst hatte sich in jenen Januartagen ferngehalten.Seit er gehört hatte, wie ein Auto in die Auslage eines Ladens im Erdgeschoss seines Hauses fuhr, verließ er die Wohnung nicht mehr. Er meinte, die Proteste seien gegen den damals noch übermächtigen Staatsgründer Nursultan Nasarbajew gerichtet gewesen, hielt aber auch die Gegenthese von einer Intrige Nasarbajews gegen Nachfolger Tokajew für möglich.Noch weiter den Berg hinauf, gegenüber einem Freiluftmarkt mit viel lokalpatriotischem Kunsthandwerk, ragte unbeleuchtet die spitze Ruine des Almatiner Präsidentenpalastes in die Nacht. Im Januar abgefackelt, wurden die Reste mittlerweile in aller Stille abgerissen. Ziggy Stardust, der Nasarbajew persönlich ablehnte, aber nie einen Grund zum Protestieren gesehen hatte, war mit dem Verlauf des Jahres 2022 ganz zufrieden: „Es gibt jetzt mehr Freiheiten als zuvor.“Als ich aus Almaty abflog, zwängte sich ein in schwarzen Kunststoff gekleideter, säuerlich riechender Kerl in den Nebensitz. Mein erster Gedanke war: Grundgütiger, ein Mambet! Er war – „Wie alle hier!“ – als Zwischenhändler tätig, in seinem Fall von Baumaterialien, die andere Zwischenhändler aus Russland importierten. Er lachte höhnisch auf, als ich neutral zitierend den Begriff „Mambet“ gebrauchte: „Das soll mir mal einer erklären, was das sein soll, ein Mambet!“Doch war er einer der Aufständischen vom Januar. Einer von – nach offiziellen Angaben – 50.000 Aufrührern, einer von 7.000 Verhafteten, keiner der 4.300 (!) Verletzten. Der hüstelnde, herüberschielende Mitreisende hielt ihn nicht davon ab, mir mit nur leicht gedämpfter Stimme zu eröffnen: „Ich war zu allem bereit, ich hätte draufgehen können. Am 5. Januar zog ich los, am 7. Januar verhafteten sie mich, 15 Tage saß ich ein.“ Er zeigte mir lächelnd ein Gruppenfoto mit Victory-Zeichen aus dem Knast. Er deutete zwinkernd an, sein Scherflein zum Feuerchen im Präsidentenpalast von Almaty beigetragen zu haben.Er strich heraus, dass sich dank kasachischsprachiger Social-Media-Kanäle nur ethnische Kasachen angeschlossen hätten. Seine zahlreichen des Kasachischen nicht mächtigen Landsleute „sollten sich was schämen“. Allen patriotischen Reden zum Trotz kannte auch er sein Land erstaunlich schlecht: Als wir den wegen seiner Form und Größe äußerst leicht erkennbaren Nördlichen Aralsee überflogen, schwor er Stein und Bein, dass es sich unmöglich um dieses Gewässer handeln könne. Während nordkasachische Russen vom Januar-Aufstand hauptsächlich „eine wochenlange Internetsperre“ in Erinnerung behielten, sprach mein Almatiner Mambet von „überwindbaren Funklöchern“.Vorbild ChinaEr wollte, sagte er, ganz einfach das kleptokratische Regime weghaben. Zwischen den Clans um Nasarbajew und Tokajew machte er keinen Unterschied, den erstmaligen Einsatz des Militärpakts OVKS bezeichnete er als „Tokajews Verrat“. Er äußerte recht geläufige Ansichten, war gegen Putins Ukraine-Krieg und für mehr Rechtsstaat – nur müssten zuvor nach dem Vorbild von Xi Jinpings Antikorruptionskampagne in China „alle Abgeordneten ausgetauscht werden“. Er fand einerseits, dass sich seit dem Aufstand nichts Wesentliches verbessert habe, hielt Repressionen wie in Belarus andererseits für unmöglich: „Das lässt das Volk hier nicht zu.“Wir landeten auf dem Flughafen Atyrau, der geografisch in Europa liegt. Mein Mambet war zu einem Familienbegräbnis tief im alten Europa unterwegs, hatte aber noch nie vom Anteil Kasachstans an Europa gehört. Ich fragte ihn noch nach den Folgen der Januar-Ereignisse. Er antwortete, dass ihm das Regime „für die 15 Tage Knast eine Vorstrafe anhängen wollte, damit aber nicht durchkam“. Letzte Frage: Ist er mit anderen Aufrührern vom Januar 2022 in Kontakt? Seine knappe Antwort: „Wir kommunizieren miteinander.“ – „Habt ihr keine Angst vor dem Geheimdienst?“ – „Der Geheimdienst macht seine Arbeit. Aber wir tun ja nichts Verbotenes.“
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